Syriza kann Griechenland nicht retten

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Warum keine Wahl aus der Krise herausführt

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Nach Jahren der Wirtschaftskrise und Sparmaßnahmen entschieden sich am 25. Januar die griechischen Wähler dafür, dass die politische Partei Syriza die Zügel des Staates in die Hand bekommt. Syriza – bestehend aus einer Koalition von Sozialisten, Kommunisten und Grünen – scheint autonomen sozialen Bewegungen wohlgesonnen; ihre Führer versprechen gegen die Sparpolitik und die Polizeigewalt vorzugehen.

Viele außerhalb Griechenlands haben von Syriza zum ersten Mal im Dezember 2008 gehört, die damals – als eine über weniger als 5% der Wähler verfügende linksradikale Gruppe – praktisch die einzige Partei war, die die Ausschreitungen nicht verdammte, die auf die Ermordung von Alexandros Grigoropoulos durch die Polizei folgten. Mittlerweile ist Syriza zur mächtigsten Partei Griechenlands geworden. Sie bekommt viele Stimmen von Wählern, die davor weniger radikale Parteien unterstützt haben – und auch von einigen, die an den Bewegungen beteiligt waren und davor überhaupt keine Parteien unterstützt haben. Sogar einige griechische Anarchisten hoffen, dass die Wahl von Syriza ihnen eine dringend benötigte Verschnaufpause gewähren wird, nach Jahren sich verstärkender staatlicher Gewalt und Unterdrückung.

Aber wird der Sieg von Syriza den Bewegungen für einen gesellschaftlichen Wandel Luft zum Atmen verschaffen – oder sie ersticken? Wir haben solche Versprechen von „Hoffnung und Wandel“ schon erlebt; namentlich als Obama die Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten gewonnen hatte, aber auch als Lula und andere linke Politiker in Lateinamerika an die Macht kamen. Als Lula 2002 gewählt wurde, gab es in Brasilien einige der weltweit mächtigsten sozialen Bewegungen; sein Sieg war solch ein Rückschlag für die Graswurzelbewegungen, dass es für die Brasilianer bis 2013 brauchte, bis sie wieder eine wirkliche Herausforderung für das neoliberale Projekt aufbauen konnten, das er von seinen Vorgängern übernommen hatte.

Die Auswirkungen des Erfolges von Syriza wird man rund um die Welt spüren, besonders bei den Teilnehmern der gesellschaftlichen Bewegungen, die diese Partei repräsentieren will. Syriza nachempfundene Parteien sind überall in Europa auf dem Vormarsch. Die internationalen Finanzinstitutionen beobachten die griechische Versuchsanstalt, Millionen von Menschen, die es satt haben, auf der Verliererseite des Kapitalismus zu stehen ebenso – aber auch nationalistische und faschistische Gruppen, die hoffen, aus der Wut der Vielen Nutzen zu ziehen. Wir müssen verstehen, warum solche Parteien soviel Unterstützung erlangen, worin ihre strukturelle Rolle für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus und des Staates besteht und wie ihr Aufstieg und unvermeidlicher Fall den Rahmen des Widerstandes verschieben wird. Anarchisten müssen sich insbesondere auf intensive Kämpfe vorbereiten, die folgen werden, wenn die Lage sich ändert, sonst finden wir uns alleine wieder und in eine Ecke gedrängt.

Politische Parteien im Zeitalter der Aufstände

Armut, Arbeitslosigkeit, unerschwingliche Kosten für Bildungs- und Gesundheitswesen, Obdachlosigkeit, Hunger, von der Not erzwungene Abwanderungen, Rassismus, Kriminalisierung, Entfremdung, Demütigung, Selbstmord… Das sind nicht einfach Konsequenzen der Finanzkrise, sondern die Bedingungen, mit denen Milliarden von Prekären seit Jahrzehnten alltäglich konfrontiert sind, weil sie als Laborratten im neoliberalen Experiment dienen. Allerdings wurden durch die ungleiche Verteilung der Auswirkungen des fordistischen Kompromisses viele Europäer lange von dieser Wirklichkeit verschont, bis zum Beginn des Zusammenbruchs des Wohlfahrtsstaates im Jahr 2008.

Mit dem Beginn der Finanzkrise wurden viele, die zuvor ein relativ komfortables Mittelklassenleben führten, über Nacht in Armut gestürzt. Jahre des Aufbegehrens folgten überall in Europa – nicht nur in Griechenland, sondern auch in Island, Spanien, England und der Türkei. Fast jedes europäische Land hat nach 2008 eine breite Rebellion der Bevölkerung erlebt, bis hoch ins sozialdemokratische Schweden. Die meisten davon begannen als Bewegungen um Einzelforderungen – die Studentenrevolte in Kroatien, die Proteste gegen die Goldminen in Rumänien, die Proteste gegen Korruption in Slowenien –, haben dann rasch einen grundsätzlicheren Charakter angenommen und sich der Sparpolitik, dem politischen System oder sogar dem Kapitalismus und dem Staat entgegengesetzt. Bürgermeister und Minister traten zurück, Polizeiwachen und Parlamente brannten, Regierungen fielen. Im Kern dieser Bewegungen waren nicht nur Anarchisten – in einigen Ländern wie der Ukraine und Bulgarien steuerten die Bewegungen in eine nationalistische Richtung. Aber überall öffneten diese Proteste einen Raum in dem Leute, die sich vorher nie politisch assoziiert hatten, zusammen ihre Wut zum Ausdruck bringen konnten; an vielen Orten, etwa in Bosnien, bestanden die kämpferischsten Teilnehmer aus Menschen, die nie zuvor auf die Straße gegangen waren. Das Vertrauen in den Parlamentarismus stürzte auf ein Rekordtief, und Menschen entdeckten die direkte Aktion neu.

Diese Proteste waren alles andere als aus einem Guss und verblieben eher im Reformismus, als dass sie grundsätzlich wurden. Viele erreichten ihren Höhepunkt in kleinen Siegen, wie dem Rücktritt der Regierung (Slowenien) oder dem Versprechen auf Verhandlungen mit der politischen Elite (wie in Bosnien). Teilnehmer, die leicht erreichbare Veränderungen erwartet haben, blieben am Ende enttäuscht zurück. Aber die instabile Situation stellte eine wachsende Gefahr für die herrschende Ordnung dar.

Die erste Reaktion des Staates war die Kriminalisierung des Widerstandes. Einerseits sollte das diejenigen einschüchtern, die das erste Mal protestierten: Oft wurden die schärfsten Urteile gegen die unerfahrensten Teilnehmer ausgesprochen, die keine Unterstützung durch Netzwerke hatten. Andererseits nahm die Repression Anarchisten und andere entschiedene Gegner der herrschenden Ordnung ins Visier. Im letzten Jahrzehnt wurden zahlreiche autonome Zentren geräumt (Ungdomshuset in Dänemark, Villa Amalias in Griechenland, Klinika in Prag) und „Antiterror“-Razzien gegen jeden sich zeigenden Widerspruch durchgeführt wie bei der Operation Pandora in Spanien oder der weiter andauernden Drangsalierung von Anarchisten in Großbritannien. Spanien, Griechenland und andere Länder führten außerdem schärfere Demonstrationsgesetze ein.

Die andere Antwort bestand im Versuch, diese Bewegungen zu kooptieren. Die Protestierenden hatten ausgerufen: „KEINER REPRÄSENTIERT UNS!“ – gemeint nicht nur als Klage gegen die bestehenden Parteien, sondern als Ablehnung des Prinzips der Repräsentation und der liberalen Demokratie. Leute, die gerade erst ihre politische Macht entdeckt hatten, experimentierten mit direkter Aktion und kollektiven Entscheidungsprozessen wie den Volksversammlungen in Spanien, Griechenland und Bosnien. Als Antwort haben paternalistische Intellektuelle und die hysterische Medienlandschaft gefordert, dass die Protestler politische Parteien bilden, um ihre Stimmen zu vereinigen und mit dem Staat zu verhandeln. Zur gleichen Zeit positionierten sich neue politische Parteien in diesen Bewegungen, indem sie gefangengenommene Protestanten verteidigten (wie Syriza in Griechenland), die Ziele der Proteste in den Medien und im Parlament unterstützten (wie Združena levica in Slowenien) und ihnen ihre Mittel zur Verfügung stellten (wie Die Linke in Deutschland). Sie entwickelten scheinbar ein Partei-Bewegungs-Modell und banden die Protestgruppen sowie ihre Forderungen in ihre organisatorischen Strukturen ein.

Syriza hat seine eigenen, spezifischen Ursprünge im besonderen Kontext Griechenlands. Genauso Podemos in Spanien, Die Linke in Deutschland, die Parti de Gauche in Frankreich, Radnička fronta in Kroatien, Združena levica in Slowenien und Bloco de Esquerda in Portugal. In diesem geschichtlichen Augenblick erfüllen sie jedoch dieselbe grundlegende Funktion. Konfrontiert mit so starkem Unmut, kommen der herrschenden Ordnung neue radikale politische Parteien auf einmal sehr gelegen.Und zwar, wenn diese versprechen, die Rufe nach „wahrer Demokratie“ innerhalb des bestehenden Systems zu verkörpern. Was auch immer die Intention ihrer Mitglieder ist, die strukturelle Rolle der neuen Parteien wird darin bestehen, das Vertrauen in die repräsentative Demokratie wieder herzustellen, die unkontrollierbaren außerparlamentarischen Bewegungen zu neutralisieren und den Kapitalismus und den Staat wieder als einzig denkbare gesellschaftliche Ordnung zu etablieren. Wenn sie die Hallen der Macht betreten, verpflichten sie sich selbst dazu, die autoritären Institutionen und die ungleiche Verteilung des Wohlstandes zu verewigen, die die Bewegungen auslösten, aus denen sie selbst ursprünglich hervorgingen.

In solchen Zeiten werden diejenigen, die aus der herrschenden Ordnung ihren Nutzen ziehen, bereit sein, kleine Änderungen zu riskieren, um große zu verhindern. Die wachsende Beliebtheit all dieser Parteien bei den Wahlen überall in Europa zeigt, dass das mit dem griechischen Aufstand 2008 begonnene Kapitel geschlossen wurde. Läuft alles wie bei den bisherigen Beispielen, werden diese Parteien den Kapitalismus und die Staatsmacht wieder stabilisieren und dann von der Bühne der Geschichte verschwinden, um den nächsten Verteidigern des gegenwärtigen Zustands Platz zu machen – oder sie werden selbst zu diesen.

Griechenland, die Peripherie der Zukunft

Griechenland hat von Anfang an eine Vorreiterrolle bei diesen Vorgängen gespielt. Griechische Kameraden haben sich die Straßen genommen, schon Jahre, bevor sich die Revolten von Ägypten bis nach Brasilien ausbreiteten, und sie haben sie seither niemals wirklich verlassen. Währenddessen verhängten die Geldgeber, die der griechischen Wirtschaft aus der Klemme geholfen haben – die Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfond –, ein Sparpaket nach dem anderen.

Wie sieht das bei genauerer Betrachtung aus? Vor einigen Jahren sammelten anarchistische Gruppen überall in Europa Geld für eine griechische Kameradin, die ihr Kind wegen einer lebenswichtigen Operation außer Landes schaffen musste. Der Grund war, dass der griechische Staat im Zuge der finanziellen Einschnitte bestimmte Operationen schlicht eingestellt hatte. Diese Geschichte ist nur eine unter vielen, und viele Leute haben nicht das Privileg, eine Gemeinschaft zu haben, die sie auf diese Weise unterstützt. Während die Faschisten der Goldenen Morgenröte Genossen wie Pavlos Fyssas auf der Straße ermorden und die Polizei Migranten an den griechischen Grenzen der Festung Europa umbringt, tötet der Staat die armen Leute an den Pforten der Krankenhäuser, indem er ihnen die Gesundheitsversorgung verweigert.

Als der Staat Krankenhäuser, Fernsehstationen, Schulen und Kindergärten geschlossen hatte, organisierten sich Anarchisten und andere selbst, um unabhängige Kliniken, Erziehungsprojekte, öffentliche Küchen, Sozialprogramme und Nachbarschaftsversammlungen zu einzurichten. In den folgenden Jahren wurde die griechische anarchistische Bewegung zu einer der gesellschaftlichen Hauptkräfte, indem sie Tausende dazu mobilisierte, an ihrer Seite zu kämpfen. Gleichzeitig nützte diese ideologische Polarisierung auch den Faschisten in Griechenland. Die Goldene Morgenröte bekam Sitze im Parlament, während Polizeibeamte ihre Reihen anschwellen liessen. Die Polizeirepression gegen anarchistische Demonstrationen wurde nun permanent und gnadenlos gewaltsam. Die von der äußersten Rechten kontrollierten Medien deckten dies mit einer Mauer des Schweigens, und die neuen Hochsicherheitsgefängnisse, die von der konservativsten Regierung seit dem Fall der Militärjunta 1970 erbaut worden waren, füllten sich mit Gefangenen.

Das waren die Voraussetzungen unter denen eine kleine Koalition aus Trotzkisten, Maoisten, Grünen und Sozialdemokraten unter dem Namen Syriza und der Führung von Alexis Tsipras an Popularität gewann. Als Tausende Menschen, die weder zu anarchistischen noch linken Gruppen gehörten, mit den Anarchisten marschierten und mit der Polizei aneinander gerieten – im Kampf gegen den Goldabbau in Chalkidiki, bei der Verteidigung des autonomen Zentrums Villa Amalias, im Kampf gegen die Goldene Morgenröte und auf Solidaritätsdemonstrationen für Migranten – bezog Syriza zu denselben Themen Position. Sie sprachen sie im Parlament an, und ihre Mitglieder nahmen an Demonstrationen teil. Wann immer es möglich war, zogen sie aus diesen Kämpfen Vorteile, um mediale Aufmerksamkeit zu erlangen.

Syriza versprach das Ende der Sparmaßnahmen – auch wenn diese Rhetorik für die Wahl zum Versprechen abgemildert wurde, die Bedingungen der griechischen Schulden neu zu verhandeln. Sie versprach, die brutalsten Polizeieinheiten aufzulösen – wegen der Wahlen wurde das darauf reduziert, die Beamten zu entwaffnen, die mit Demonstranten in direkten Kontakt geraten. Syriza versprach den Austritt aus der NATO – wegen der Wahlen wurde das darauf reduziert, nicht an Auslandseinsätzen teilzunehmen. Syriza versprach, die Hochsicherheitsgefängnisse zu schließen und die Universitäten wieder zur No-Go-Zone für die Polizei zu machen, ein legales Privileg, welches die Bewegung nach dem Dezember 2008 verlor, was sich als ein großer Rückschlag in den Auseinandersetzungen mit der Polizei erwies.

Syriza hat weniger Macht, Menschen auf die Straße zu bringen, als Anarchisten, aber die Partei verstand es, die Menschen an die Wahlurnen zu bringen. Das beschreibt treffend den Wandel, den die angeblichen Gegner Syrizas gerne bei den gesellschaftlichen Bewegungen in Griechenland und überall in Europa sehen würden. Während einige das Gerücht verbreiteten, nach einem Wahlsieg Syrizas könne es zu einem Wahlbetrug oder Militärputsch kommen, behaupteten andere, Syrizas Sieg würde zum Bankrott Griechenlands führen. Zur selben Zeit verbirgt die herrschende Klasse Europas die Tatsache, dass sie mit Syriza ein gutes Los gezogen hat – verglichen mit der gesellschaftlichen Bewegung, aus der die Partei hervorgegangen war. Genauso, wie Polizeigewalt Widerstand eher katalysiert, als ihn zu unterdrücken, könnte ein Wahlbetrug oder ein Eingreifen des Militärs eine neue Welle der Bewegung in Griechenland und in Europa auslösen. Die Reaktionen auf die Wahl Syrizas werden in ihrer Rhetorik harsch sein, aber versöhnlich in der Praxis. Mit der Herausforderung konfrontiert, die Staatsmacht zu behaupten, wird Syriza wahrscheinlich sehr viel weniger bieten, als die Partei versprochen hat. In einer globalisierten Welt, in der ein Land über Nacht bankrott gehen kann, brauchen die Kapitalisten keinen Coup zu organisieren, um ihren Willen zu bekommen.

Unsere Träume werden niemals in ihre Wahlurnen passen

Wer keinen Zusammenhang zwischen der Art und Weise sieht, wie die Politik der Wahlen und der Kapitalismus Macht konzentrieren, für den ist es verlockend, sich vorzustellen, dass eine neue politische Partei das System endlich so funktionieren lässt, „wie es eigentlich sein soll”. Aber sogar Anarchisten, die nicht an repräsentative Politik oder Reformen glauben, mögen die Hoffnung haben, dass eine Syriza-Regierung ein für Widerstand günstigeres Umfeld schaffen könnte. Tatsächlich ist es ein offenes Geheimnis, dass Syriza-Mitglieder als Anwälte für viele Anarchisten gearbeitet haben; warum sollten sie nicht weiter eine Beschützerrolle spielen, wenn sie an den Schalthebeln der Macht sitzen?

All das ist hoffnungslos naiv. Auf lange Sicht kann keine Partei die Probleme lösen, die vom Kapitalismus und vom Staat hervorgebracht wurden, und Syrizas Sieg wird die revolutionären Bewegungen, die wir brauchen, nur behindern. Das sind die Gründe:

Syriza wird die Legitimität der Institutionen wiederherstellen, die ursächlich für die Krise verantwortlich sind.

Tatsächlich hat bereits der Aufstieg von Syriza zur Macht die Regierungsinstitutionen für viele wieder legitimiert, die das Vertrauen in diese verloren hatten. Unabhängig von Syrizas Absichten ist dies derselbe Regierungsapparat, der den Menschen die Auswirkungen des Kapitalismus aufzwingt, indem er ihnen den Zugang zu den Mitteln verwehrt, die sie benötigen. Selbst wenn es Syriza möglich wäre, mithilfe der Staatsmacht die Folgen der Kapitalakkumulation zu bekämpfen, würde die Regierungsgewalt früher oder später wieder von denjenigen übernommen, die sie normalerweise innehaben. Wenn dies passiert, werden die Bemühungen, die Regierung zu delegitimieren, wieder ganz von vorn beginnen müssen.

Dieser Zyklus der Desillusionierung und Wiederherstellung der Legitimität dient schon seit Jahrhunderten dazu, die autoritären Strukturen des Staates zu bewahren, indem er den Kampf für wirkliche Freiheit immer auf die Zukunft verschoben hat. Es ist eine alte Geschichte, die von den französischen Revolutionen von 1789, 1848 und 1870 über die russische Revolution und die nationalen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts bis zur Wahl von Obama reicht.

Syriza selbst wird nichts tun, um die grundlegenden Hierarchien der Politik zu untergraben. Viele dieser neuen Parteien begannen als scheinbar horizontale Netzwerke, die wahre Transparenz und demokratische Entscheidungsfindungsprozesse versprachen. Aber sobald sie größer werden, geben sie zwangsläufig horizontale Strukturen auf und beginnen, die älteren Parteien nachzuahmen, die sie zu bekämpfen vorgeben. Diese Veränderungen werden oft als politischer Pragmatismus oder als Lösungen für das Problem der großen Zahl gerechtfertigt – und in der Tat passen die Erfordernisse repräsentativer Politik nicht zu den horizontalen, autonomen Strukturen, die in echten sozialen Basisbewegungen entstehen können. Daher können wir sicher sein, an der Spitze jeder erfolgreichen Partei wie Syriza, Združena levica oder Podemos einen charismatischen Führer wie Alexis Tsipras, Luka Mesec oder Pablo Iglesias zu finden. Die Persönlichkeiten dieser Führer verschränken sich mit ihren Parteien auf eine Weise, die an Hugo Chavez oder andere berühmte Politiker der Linken erinnert. Wer eine Partei aufbaut, um nach den Regeln des Staates zu spielen, der wird mit einer Struktur enden, die ein Abbild des Staates ist. Diese interne Wandlung ist der erste Schritt der Wiederherstellung des status quo.

Linke Parteien haben immer eine widersprüchliche Haltung gegenüber dem Staat an den Tag gelegt. Theoretisch beteuern sie, dass der Staat nur ein notwendiges Übel auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft sei; auf dem Feld der Realpolitik verteidigen sie jedoch immer dessen repressive Mechanismen – da keiner, der die Staatsmacht ausüben möchte, ohne sie auskommt. Manche dieser neuen Parteien warten nicht einmal ab, bis sie an die Macht kommen, um diesen Weg einzuschlagen; in Slowenien forderte die linke Oppositionspartei Združena levica als Teil ihres Kampfes gegen Sparmaßnahmen, dass die Polizei bessere Ausrüstung und mehr Personal erhalten soll. Heute sehen diese neuen politischen Parteien die Staatsgewalt als eine notwendige Voraussetzung für ihren Kampf gegen den Neoliberalismus; sie lehnen die Privatisierung von Staatsbetrieben ab und empfehlen Verstaatlichungen als eine der Hauptmaßnahmen gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Ihr Ziel ist nicht, den Staat und die von ihm durchgesetzten ökonomischen Ungleichheiten abzuschaffen, sondern, das bürgerliche Ideal des Sozialstaates durch ein neokeynesianisches Wirtschaftsprogramm zu bewahren.

Wenn dies in der Vergangenheit möglich war, so doch nur für ein paar privilegierte Länder und auf Kosten von Millionen Ausgebeuteten auf der ganzen Welt – und sogar die Nutznießer dieser Ordnung waren sich nicht sicher, ob sie diese wollten, wie die gegenkulturellen Rebellionen der 1960er zeigten. Heute, wo die Kapitalakkumulation sich in einem solchen Maße intensiviert hat, dass nur massive Sparprogramme die Wirtschaft am Laufen halten können, sind die alten Kompromisse der Sozialdemokratie unmöglich geworden, und keiner außer den linken Quacksalbern bezweifelt dies. Die Untergangsprophezeihungen deutscher Ökonomen, die vorhersagen, dass Syriza die griechische Wirtschaft ruinieren wird, sind durchaus wahr: In einer globalisierten Weltwirtschaft kann man keinen Reichtum umverteilen, ohne Kapitalflucht zu verursachen, es sei denn, man ist bereit, den Kapitalismus mitsamt den staatlichen Strukturen abzuschaffen, die ihn erhalten.

Die meisten Beteiligten der Bewegungen der letzten sieben Jahre sind noch nicht bereit, so weit zu gehen. Sie gingen aus Unzufriedenheit mit den bestehenden Regierungen auf die Straße, aber sie sahen diese Bewegungen als einen Weg, um eine unmittelbare Lösung zu finden, nicht als eine bloße Etappe in einem jahrhundertelangen Kampf gegen den Kapitalismus. Als die Proteste zu keinen unmittelbaren Ergebnissen führten, traten sie Parteien wie Syriza bei, die schnelle und einfache Lösungen versprachen. Aber was heute pragmatisch erscheint, wird ein peinlicher Fehler sein, an den sich morgen jeder mit Kopfschmerzen erinnert. Geht es mit Parteien nicht immer so?

Syriza hat jetzt keine andere Wahl, als Ruhe und Ordnung durchzusetzen, indem sie die Bewegungen, durch die die Partei zur Macht emporgeschwungen wurde, ruhig stellt.

Noch ist es zu früh, das genaue Verhältnis zwischen der neuen Regierungspartei und den Bewegungen, die ihr zur Macht verhalfen, zu antizipieren. Wir können nur anhand vergangener Beispiele spekulieren.

Kommen wir zurück zum brasilianischen Beispiel. Nach Lulas Machtübernahme fand sich Brasiliens stärkste soziale Bewegung, die 1,5 Millionen Mitglieder umfassende Landreformbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Sem Terra) in einer deutlich schlechteren Position wieder, als noch unter der vorhergehenden konservativen Regierung. Obwohl viele Mitglieder und Führer der Bewegung auch in Lula’s Partei aktiv waren, hinderten die Sachzwänge der Staatsführung Lula daran, die Bewegung zu unterstützen. Wenngleich die MST der Vorregierung noch viele Landbesetzungslegalisierungen abringen konnte, waren ihr unter Lula keinerlei Fortschritte mehr möglich. Nach demselben Muster spielte es sich überall in Lateinamerika ab. Die Politiker verrieten diejenigen Bewegungen, welche sie zuvor ins Amt gebracht hatten. Das ist ein gutes Argument dafür, eigenständig Kräfte aufzubauen, anstatt zu versuchen, wohlgesonnenen Politikern ins Amt zu verhelfen – denn sobald diese erst einmal im Amt sind, müssen sie nach der Logik ihres Postens handeln, nicht nach derjenigen der Bewegung.

Syriza kam an die Macht, indem die Partei aggressiv um Wählerstimmen warb und ihre Forderungen verwässerte. Repräsentative Demokratie tendiert dazu, Politik zu einer Angelegenheit des kleinsten gemeinsamen Nenners zu reduzieren, da Parteien um Wählerstimmen und Koalitionen rangeln. So war auch Syrizas erste Amtshandlung, eine Koalition mit den rechten Unabhängigen Griechen einzugehen. Um diese Koalition aufrecht erhalten zu können, wird Syriza Zugeständnisse an die Ziele ihrer Partner machen müssen. Das wird erstens bedeuten, ungewollte rechte Politik bei der eigenen Mitgliedschaft durchzusetzen – und diese dann allen anderen aufzudrängen. Es gibt keinen Weg an der wesentlich unterdrückerischen Natur allen Regierens vorbei.

Zahlreiche Anarchisten hoffen, Syriza werde der staatlichen Repression sozialer Bewegungen Einhalt gebieten und ihnen dadurch die Möglichkeit geben, sich freier zu entwickeln. Unterstützte Syriza nicht von Grund auf die Aufstände von 2008? Damals waren sie jedoch eine kleine Partei auf der Suche nach Verbündeten; nun stellen sie die herrschende Elite. Um an der Macht zu bleiben, müssen sie zeigen, dass sie bereit sind, die Herrschaft des Gesetzes durchzusetzen. Auch wenn sie vielleicht kleinere Proteste nicht so aggressiv verfolgen werden, wie es eine rechte Regierung täte, werden sie Aktivisten in legitime und illegitime aufteilen müssen – ein Vorgehen aus dem Handbuch der Aufstandsbekämpfung, an dem sich Regierungen und Besatzungsarmeen weltweit orientieren. Das wäre nichts Neues für Griechenland; genau das passierte unter den Sozialdemokraten der PASOK in den frühen 1980ern. Selbst wenn Syriza die vorherige Intensität der Repression nicht aufrechtzuerhalten sucht, ihre Funktion wird sein, die Bewegungen zu spalten, die Fügsamen zu assimilieren und den Rest zu marginalisieren. Das könnte sich als wirksamere repressive Strategie herausstellen als der Einsatz roher Gewalt.

Unter diesen neuen Voraussetzungen werden sich die Bewegungen selbst verändern. Syriza ist schon an vielen sozialen Graswurzelprogrammen beteiligt; sie werden wohl den kooperativsten unter ihnen mehr Ressourcen anbieten, allerdings nur unter Einflussnahme des Staates. Es wird immer schwerer für Graswurzelaktivisten werden, wirklich autonom zu bleiben und den Unterschied zwischen Selbstorganisation und Management von oben aufzuzeigen. Ähnliches ist schon im gemeinnützigen Sektor der USA passiert, mit verheerender Wirkung. Wir können hier auch auf den Regierungseinfluss auf angeblich selbstorganisierte Nachbarschaftshilfe im Venezuela unter Hugo Chavez verweisen.

Diese Art der Einverleibung in die Logik des Staates ist Parteien wie Syriza wesentlich. Sie brauchen Bewegungen, die wissen, wie man sich benimmt und die ohne zuviel Aufhebens dazu herhalten können, parlamentarische Entscheidungen zu legitimieren. In der Tat hat von 2012 an die bloße Aussicht auf die Machtergreifung Syrizas die Straßen Griechenlands weitgehend von Protesten frei gehalten und dadurch das Risiko für Anarchisten und andere, die weiterhin demonstrierten, erhöht. Parteien wie Syriza können die Öffentlichkeit also befrieden, ohne auch nur ins Amt zu gelangen.

Was passiert nun mit dem Rest der Bewegung, mit denen, die weiterhin Ihre Autonomie aufrechterhalten und versuchen, ihre eigene Macht nach ihren eigenen Regeln außerhalb der Institutionen aufzubauen? Das ist die Frage, die sich uns stellt.

Wo Syriza versagt, wird der Faschismus wachsen.

Internationalem Druck, einer gespaltenen Wählerschaft und dem strukturellen Verhältnis zwischen Staat und Kapital gegenüberstehend, kann Syriza nicht darauf hoffen, die alltäglichen Probleme zu lösen, die sich den meisten Griechen als Ergebnis eines ungezügelten Kapitalismus stellen. Langfristig könnte das Tür und Tor für die einzige Regierungsform öffnen, die Griechenland noch nicht ausprobiert hat: den Faschismus.

Eine gewinnorientierte Wirtschaftsordnung konzentriert Reichtum unweigerlich in den Händen immer weniger Menschen. In einer globalisierten Welt verschreckt jedes Land Investoren, wenn es versucht, diesen Prozess umzukehren. Daran liegt es auch, dass heute die sozialdemokratische Infrastruktur sogar in den reichsten Ländern unter Beschuss gerät, indem Marktmechanismen auf Kosten der gewöhnlichen Bevölkerung am Laufen gehalten werden. Dieses Problem könnte mit der revolutionären Abschaffung des Privateigentums und des dieses beschützenden Staates gelöst werden. Für für die gleichzeitige Aufrechterhaltung der sozialdemokratischen Infrastruktur und des Kapitalismus gibt es allerdings nur einen Weg: die zahlenmäßige Begrenzung derjenigen, die von ihr profitieren. Diesen Zweck verfolgt das Essensverteilungsprogramms, das die Partei Goldene Morgenröte „nur für Griechen“ organisiert. So gesehen, haben nationalistische und faschistische Parteien einen realistischeren Plan, um das soziale Netz für die weiße Mittelklasse aufrechtzuerhalten als die üblichen sozialistischen Parteien.

Aus diesem Grund ist es für Parteien wie Syriza so gefährlich, wenn sie der Idee Nachdruck verleihen, die Probleme des Kapitalismus ließen sich mit sozialpolitischen Maßnahmen lösen. Lösen sie ihre Versprechen nicht ein, werden sich einige von denen, die an diese geglaubt haben, rechtsradikalen Parteien zuwenden, die vorgeben, über einen pragmatischeren Ansatz zum Erreichen derselben Ziele zu verfügen. Das passiert schon jetzt in ganz Europa. In Schweden, dem Aushängeschild der Sozialdemokratie, wurde die Aufrechterhaltung staatlicher Sozialpolitik jahrzehntelang durch linke Agitation propagiert. Dies ebnete dann der Forderung der Faschisten den Weg, die Grenzen schließen zu müssen, um diese Programme beibehalten zu können.

Aber Faschisten brauchen nicht erst an die Macht zu kommen, um gefährlich zu werden. Gefährlich sind sie schon deshalb, weil sie, genau wie Anarchisten, ihre Ziele auch direkt verfolgen können, ohne der Hilfe des Staatsapparates zu bedürfen. Wir könnten tatsächlich in eine Ära eintreten, in der es eine Vielzahl politischer Akteure zielführender findet, sich außerhalb der Regierung zu positionieren, anstatt sich mit ihr diskreditieren zu lassen. Jetzt, da der Staat nicht länger die Auswirkungen des Kapitalismus abmildern kann, werden die Menschen zwangsläufig immer desillusionierter und rebellischer werden. Wo immer linke Parteien die Staatsmacht innehaben und versuchen, ihre ehemaligen Kameraden zu beschwichtigen, die immer noch auf die Straße gehen, wird es für rechtsextreme Gruppen immer einfacher, sich als die wirklichen Widerstandskämpfer zu präsentieren – wie beispielsweise in Venezuela. Mit Sicherheit werden die Aufstände der letzten Jahrzehnte anhalten, es fragt sich nur, in welcher Art und Weise. Werden sie die Menschen mit ihren Kollektivkräften vereinen und die endgültige Abschaffung des Kapitalismus einleiten oder werden sie eher dem gleichen, was letztes Jahr in der Ukraine geschehen ist?

Angesichts der europaweiten Erstarkung antiislamischer Hysterie und nationalistischer Bewegungen wie der deutschen PEGIDA ist Faschismus nicht nur eine zukünftige Bedrohung, sondern eine deutliche und akute Gefahr. Es den Regierungen zu überlassen, der faschistischen Bedrohung mit rechtsstaatlichen Mitteln zu begegnen, ist in zweifacher Hinsicht gefährlich: Es ersetzt die Handlungsfähigkeit von Basisbewegungen mit der Vermittlung durch Autoritäten, und – noch einmal – es legitimiert staatliche Institutionen, die in die Hände von Faschisten fallen könnten. Einige mögen Syriza als ein Bollwerk gegen den Faschismus sehen, aber nur autonome Bewegungen können ihn besiegen und zwar nicht nur durch reaktive Bekämpfung, sondern vor allem durch das Aufzeigen einer verlockenderen Vision gesellschaftlichen Wandels.

Härter kämpfen, mehr wollen

Wenn Syrizas Sieg dazu führt, diejenigen, die einst auf der Straße zusammenkamen, wieder in der Rolle des Zuschauers und der Vereinzelung einzulullen, wird sich das Zeitfenster wieder schließen, das während der Aufstände Möglichkeiten zu Veränderung eröffnet hatte. Das würde Syriza selbst überflüssig machen und eine Blaupause dafür liefern, wie man gesellschaftliche Bewegungen überall in der Welt befrieden kann. Syriza spielt mit dem Feuer, verspricht Lösungen, die die Partei nicht umsetzen kann. Wenngleich ihr Fehlschlag dem Faschismus die Tür öffnen könnte, so könnte er auch eine neue Phase von Bewegungen jenseits und gegen jegliche Autorität hervorbringen.

Um das möglich zu machen, müssen sich Anarchisten in Griechenland und überall in der Welt von allen politischen Parteien unterscheiden und die Allgemeinheit dazu einladen, sich ihnen in Räumen jenseits des Einflusses selbst der großherzigsten Sozialdemokraten anzuschließen. Dazu gehört es, sich von den opportunistischen Politikern abzuwenden, die sich ihnen einst auf der Straße angeschlossen hatten. Das wird nicht einfach sein, ist aber der einzige Weg. Wenn es auch das Einzige ist, so sind jetzt, wo die Wahl vorbei ist und Syriza sich auf der anderen Seite des Machtwalls befindet, wenigstens die Grenzlinien klar.

Den Kapitalismus und den Staat abzuschaffen, ist für die meisten Leute immer noch undenkbar. Allerdings sind – wie Griechenland erfahren musste – die Maßnahmen, die den Kapitalismus für die nächste Generation stabilisieren könnten, noch undenkbarer. In der alltäglichen Praxis der griechischen Anarchisten – dem Besetzen von Sozialzentren und Universitätsgebäuden, den Selbstverteidigungspatrouillen gegen die Goldene Morgenröte, den Sozialprogrammen und Versammlungen – können wir die ersten Schritte hin zu einer Welt ohne Eigentum und Regierung sehen. Wenn diese Praktiken 2012 in eine Sackgasse führten, so lag dies auch daran, dass so viele Menschen, in Hoffnung auf einen Wahlsieg Syrizas, die Straßen wieder aufgaben. Und doch sind genau das die Beispiele, an denen man sich ein Vorbild nehmen muss – und nicht das Modell Syriza. Lasst uns damit aufhören, mit falschen Lösungsansätzen die Zeit zu verspielen.

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