Als Reaktion auf Emmanuel Macrons Vorschlag, die Kraftstoffsteuer aus »ökologischen« Gründen zu erhöhen, hat Frankreich mehrere Wochen lang Unruhen im Zusammenhang mit der Bewegung der »Gelben Westen« erlebt. Dieser Graswurzel-Aufstand veranschaulicht, wie die Widersprüche der »Politik der Mitte« – wie die falsche Dichotomie zwischen der Bewältigung des Klimawandels und der Berücksichtigung der Bedürfnisse der Armen – soziale Bewegungen schaffen können, die einen fruchtbaren Boden für Populisten und Nationalistinnen bieten. Gleichzeitig wirft die zunehmende Beteiligung von Anarchist*innen und anderen autonomen Rebellen an den Unruhen wichtige Fragen auf. Wenn rechte Gruppen Bewegungen übernehmen können, wie sie es in der Ukraine und Brasilien getan haben, können dann Antikapitalist*innen und Antiautoritäre sie auf grundlegende Lösungen ausrichten?
Am Dienstag, den 4. Dezember, bot die Regierung Macron erste Zugeständnisse: die verzögerte Einführung der Kraftstoffsteuer um sechs Monate. Die Bewegung jedoch hat noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Proteste und Polizeigewalt in ganz Frankreich dauern unvermindert an; inzwischen sind LKW-Fahrer und Gymnasiastinnen beteiligt. Das Modell der »Gelben Westen« hat sich bereits in Belgien verbreitet, und es gibt Demonstrationen in Spanien und Deutschland. Während auf Volksverpetzer einige Einblicke in die Abgründe des deutschen Ablegers gewährt werden, verteidigt das Lower Class Magazine die Revolte und für Dortmund kursiert sogar ein Aufruf »von links«.
Für diesen Samstag (den 8.12.) wurde zu einem weiteren Aktionstag aufgerufen; zum ersten Mal seit Beginn der Bewegung haben die Gewerkschaften offiziell angekündigt, dass sie teilnehmen werden. Bahnarbeiterinnen, Studenten und Antirassist*innen rufen dazu auf, sich um 10 Uhr in der Nähe des Bahnhofs Saint Lazare zu versammeln. Mit anderen Worten, es scheint, dass für Samstag ein weiterer antifaschistischer und antikapitalistischer Block geplant ist. Die Regierung bereitet sich darauf vor, die staatliche Gewalt noch einmal zu verstärken. Alle Regierungsmitglieder sagen, dass sie »wirklich Angst vor diesem Samstag« haben.
Wie heutzutage üblich, scheint keine*r auf irgendeiner Seite des Konflikts eine Strategie zu haben, außer die einer weiteren Eskalation.
Aber wer wird von dieser Eskalation profitieren? Wird sie die einfachen Menschen radikalisieren und sie in die Lage versetzen, ihre Lebensgrundlagen gegen neoliberale Sparmaßnahmen durch direkte Aktionen zu verteidigen? Wird sie dem Polizeistaat eine neue Rechtfertigung für weitere repressive Gesetze und Maßnahmen bieten? Wird sie eine rechte nationalistische Regierung an die Macht bringen, die die Regierung von Macron ersetzt?
Wenn sich diese intern widersprüchliche Bewegung auch auf andere Teile Europas ausbreitet, welche Aspekte werden dann verbreitet? Wird sie den fremdenfeindlichen Populismus durch die Wut der Bevölkerung über die Wirtschaft ersetzen und den Weg für eine neue Welle des Antikapitalismus ebnen? Wird sie ein Vehikel für die Rechte sein, um eine Welle Graswurzel-Nationalismus zu schaffen und eine neue Ära der faschistischen Straßengewalt einzuleiten? Wird sie weiterhin ein Schlachtfeld sein, auf dem NationalistInnen, Anarchisten und andere darum wetteifern, welche Form die Opposition gegen die »Politik der Mitte« (wie die von Macron) in den kommenden Jahren annehmen wird?
In weniger reaktionären Zeiten in den USA, war die Occupy Bewegung mit einige der gleichen Konflikte konfrontiert. Legalistische Linksiberale, linke Pazifisten, aufständische Anarchist*innen, rechte Kryptofaschisten und unorganisierte, wütende arme Menschen trafen sich in der Bewegung und kämpften um ihre Ausrichtung. Zuerst war unklar, ob Occupy für bürgerliche Demokrat*innen, rechtsgerichtete Verschwörungstheoretiker*innen oder die wirklich Armen und Verzweifelten am nützlichsten sein wird; im September 2011 hörten wir sogar ähnlich pessimistisches über Occupy, wie wir von Anarchist*innen über die Bewegung der »Gelben Westen« im November 2018 gehört haben. Doch nach einigen Wochen ergriffen Anarchist*innen und andere militante Gegner des Kapitalismus und des Rassismus die Initiative, vor allem bei Occupy Oakland, indem sie die Bewegung darauf konzentrierten, die Ursachen der Armut zu bekämpfen und so dafür zu sorgen, dass viele der Menschen, die während Occupy radikalisiert wurden, eher eine emanzipatorische als eine reaktionäre Politik annahmen.
Zwei Jahre später konnten wir den gegenteiligen Prozess in der Ukraine beobachten, als die Faschisten die Initiative mit dem gleichen Ansatz übernahmen, den Anarchist*innen bei Occupy Oakland verfolgt hatten: sie stellten die Frontlinie bei Zusammenstößen mit der Polizei und zwangen ihre politischen Gegner aus den Organisationsräumen.
Heute hat die äußerste Rechte seit 2014 beträchtliche Gewinne erzielt, und die Konflikte weltweit spielen sich auf einem viel härteren Niveau ab als zu Zeiten von Occupy. Frankreich hat eine lange Geschichte freiheitlicher Bewegungen, darunter viele kraftvolle Kämpfe in den letzten anderthalb Jahrzehnten. Hoffentlich haben diese Bewegungen Netzwerke geschaffen, die stark genug sind um den NationalistInnen nicht die Führung oder Deutungshoheit über sozialen Bewegungen in Frankreich zu überlassen.
Aber selbst wenn wir die Bewegung selbst als Handgemenge verstehen, wirft das nur weitere Fragen auf. Was ist der beste Weg, um den Charakter einer Bewegung zu beeinflussen? Wie können wir diesen Kampf in einer Weise führen, die die Bewegung nicht schwächt und der Polizei so einen Vorteil verschafft? Wie können wir uns weiterhin darauf konzentrieren, uns mit anderen Teilnehmern der Bewegung zu verbinden, statt im erbitterten Zweikampf mit den Faschisten stecken zu bleiben?
Um diese Fragen tiefer gehend zu untersuchen wird, folgt hier ein Bericht und eine Analyse über die Bewegung der »Gelben Westen« seit dem 24. November. Einen Bericht über die Zeit davor gibt es auch, diesen aber leider nur auf englisch.
Die Folgen des 24. November
Vor einer Woche herrschte völlige Verwirrung über die Bewegung der »Gelben Westen« – und in ihr. Die selbsternannte »führerlose«, »spontane« und »unpolitische« Bewegung gegen die Erhöhung der Kraftstoffsteuer war in eine erste Sackgasse geraten. Wie konnte die Bewegung gemeinsam bestehen bleiben, wenn Menschen aus dem gesamten politischen Spektrum mit völlig widersprüchlichen Ansichten teilnahmen? Ansichten darüber, wie sie die Regierung ansprechen sollten, welche Art von Taktik sie anwenden sollten und anhand welche Narrative sie sich organisieren sollten? Wie konnte die Bewegung gleichzeitig den Versuchen von politischen Opportunisten und Parteiführern widerstehen, sie zu vereinnahmen und gleichzeitig weiter voranzutreiben? Die Bewegung der »Gelben Westen« begann sich darüber zu spalten.
Am Tag nach der Pariser Demonstration am Samstag, den 24. November, bei der die Allee der Champs Elysées in ein Schlachtfeld zwischen Demonstrant*innen und Polizei verwandelt wurde, stimmte ein Teil der Bewegung für die Wahl von acht offiziellen Sprecher*innen. Dabei hofften sie, wieder eine gute altmodische Hierarchie und Zentralisierung in die Bewegung einzubringen, um den Dialog mit der Regierung aufzunehmen.
Wieder einmal war es bei diesen Wahlen nicht einfach, den Anschein zu wahren, dass die Bewegung der »Gelben Westen« »unpolitisch« sei. Zwei der neu gewählten Sprecher haben Verbindungen nach Rechtsaußen:
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Thomas Mirallès kandidierte bei den Kommunalwahlen 2014 für den Front National (heute Rassemblement National). Um sich zu verteidigen, beschreibt er diese politische Erfahrung als »einen jugendlichen Fehler« und betont, dass er seit dieser Wahl »nie wieder an einer Kampagne teilgenommen habe«.
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Im Social Media hat Eric Drouet Videos gegen Migrant*innen geteilt und Argumente der fremdenfeindlichen Rechten verbreitet. Da er wusste, dass dies sein neues »respektables« Image als Sprecher der Bewegung beeinträchtigen könnte, löschte er bis zum 18. November alle seine Facebook-Posts.
Diese Wahlen wurden jedoch von einem anderen Teil der Bewegung abgelehnt, der sich weigerte, in die Falle der Repräsentation und Verhandlung zu tappen. Einige Gelbe Westen lehnen den Begriff der Repräsentation ausdrücklich ab: Anstatt einen Sprecher zu haben, soll jede*r Teilnehmer*in für sich selbst sprechen. Nach den intensiven Konfrontationen, die während der Demonstration am 24. November in Paris stattfanden, beschlossen mehrere lokale Organisatoren, sich von der Bewegung zu distanzieren.
Der Konflikt innerhalb der Bewegung hielt einige entschlossene Gelbe Westen nicht davon ab, zu einem weiteren Aktionstag am Samstag, den 1. Dezember, aufzurufen – um den Druck auf die Regierung zu erhöhen, die Steuer aufzuheben – oder einfach nur die Regierung selbst zu destabilisieren. Der Ton wurde angegeben!
Die Regierung versucht sich im Dialog.
Inzwischen ist klar, dass die französische Regierung nicht damit gerechnet hatte, dass die Wut der Demonstrant*innen eskaliert und zu stundenlangen Unruhen in Paris führen würde. Als am folgenden Wochenende ein weiterer Aufruf in Paris zu demonstrieren schien, erkannte die Regierung, dass sie die Kontrolle über die Situation verlor. Deshalb haben die Regierungsmitglieder nach wochenlanger Ignoranz der Bewegung ihre Strategie geändert, in der Hoffnung, die Situation zu beruhigen. In diesem Zusammenhang war die Entscheidung, offizielle Sprecher*innen für die Bewegung zu wählen, ein strategischer Fehler, da sie die Bemühungen der Regierung erleichterte, einen »Dialog« einzurichten, in welchem Politiker Vertretern Bedingungen diktieren würden, die sie dann den Teilnehmer*innen vorschreiben würden.
Am Dienstag, den 27. November, hielt Präsident Macron eine öffentliche Rede, um die Gründung des Haut Conseil pour le Climat (Hoher Rat für Klima) anzukündigen, dessen Ziel es ist, »eine unabhängige Perspektive auf die Klimapolitik der Regierung zu bieten«. Während seiner Rede änderte Präsident Macron seine Strategie, indem er direkt auf einige der Forderungen und Anliegen der Gelben West einging und sich als Pädagoge präsentierte, der bereit sei, zuzuhören, was die Leute zu sagen haben. Diese politische Maskerade scheiterte; viele Mitglieder der Bewegung lehnten die so genannte »helfende Hand« des Präsidenten ab und kritisierten seine Heuchelei, da Macron sich gerade an diesem Morgen kategorisch geweigert hatte, einige Gelbe Westen zu treffen.
Später an dem Tag empfing der Minister für den ökologischen Übergang, François de Rugy, auf Bitten von Präsident Macron die führenden Persönlichkeiten der Bewegung. Dieses Treffen sollte eine Art Dialog zwischen der Regierung und der Bewegung etablieren, um einen Ausweg aus der Situation zu finden. Nach zwei Stunden steckten sie jedoch noch immer in einer Sackgasse. Die beiden Sprecher, die von ihrem Austausch mit dem Minister nicht überzeugt waren, bekräftigten ihre Absicht, am Samstag, den 1. Dezember, zu demonstrieren.
Die Regierung begriff, dass die Situation eskalierte, da immer mehr Gelbe Westen die Idee des Dialogs ablehnten und ankündigten, sich auf der Straße zu versammeln, und versuchte ein weiteres Mal, den Dialog aufzunehmen. Am 30. November lud Premierminister Edouard Philippe die acht Sprecher*innen der Bewegung zu einem Treffen ein. Auch dieses Treffen war ein Misserfolg: Am Ende traf sich nur einer von acht Sprecher*innen mit dem Premierminister und dem Minister für ökologischen Wandel. Ein zweiter Sprecher, Jason Herbert, verließ das Meeting kurz nach Beginn.
Ein fruchtbarer Boden für Populisten
In derselben Woche präsentierte der selbsternannte »legalistische« und »offizielle« Teil der Bewegung, darunter die gewählten Führer und Sprecher der Gelben Westen, den traditionellen Medien 42 Forderungen. Wenn mensch sich diese Liste ansieht, ist es leicht, die Verwirrungen innerhalb der Bewegung zu erkennen, aber auch einige der politischen Einflüsse zu identifizieren, die ihre Protagonist*innen teilen.
Die Liste enthält Forderungen aus allen politischen Spektren. Es gibt soziale Forderungen wie die Erhöhung des Mindestlohns, die Bekämpfung der Obdachlosigkeit und die Erhöhung der finanziellen Unterstützung für Menschen mit Behinderungen. Aber es gibt auch reaktionäre Forderungen, wie die Abschiebung von Einwanderern, die kein Asylrecht erhalten haben, schärfere Abgrenzung, die Entwicklung einer Assimilationspolitik für diejenigen, die in Frankreich leben wollen, die Anhebung der Amtszeit des Präsidenten von 5 auf 7 Jahre und die Bereitstellung von mehr Mitteln für die Justiz, die Polizei und die Armee.
Neben diesen Forderungen sahen wir die inzwischen »klassische« Opposition gegen die Erhöhung der Kraftstoffsteuer sowie einige ökologische, protektionistische und nationalistische Argumente. Der »legalistische« oder »offizielle« Teil der Bewegung spielte ein gefährliches Spiel, indem er für Populisten von links bis rechts die Grundlage schuf die Bewegung zu unterstützen, wenn nicht sogar die Möglichkeit, sie vollständig zu vereinnahmen.
Jean-Luc Mélenchon, Vorsitzender der linken populistischen Partei France Insoumise, leugnet öffentlich, dass sich seine Partei um die Vereinnahmung der Bewegung bemüht hatte; in Wirklichkeit hofft der populistische Führer, der von der Idee einer kommenden »Bürgerrevolution« besessen ist, dass der Zorn auf den Straßen die Regierung von Macron schwächen wird. Das ist rein opportunistisch, denn die linkspopulistische Partei will ihre Wahlergebnisse verbessern, indem sie bei den Europawahlen 2019 »wütende« Wähler anzieht.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums, ermutigt durch die Welle rechtsextremer Siege in den USA, Italien und Brasilien, wissen Nationalisten, dass diese Bewegung des kollektiven Zorns eine große Chance für sie darstellt, Macht zu gewinnen und ihren Status als »echte politische Alternative« zur jetzigen Regierung zu festigen. Nicolas Dupont-Aignan, Leiter von Debout La France, unterstützt die Bewegung von Anfang an, und einige Gelbe Westen sind Mitglieder seiner politischen Partei – zum Beispiel Frank Bühler, dessen Video viral ging.
Marine Le Pen, Anführerin des Rassemblement National, glaubt, dass die Bewegung das repräsentiert, was sie seit Jahren als »Frankreich der zurückgelassenen Menschen« bezeichnet. Die nationalistische Partei glaubt, dass ihre »Wähler wie die Gelben Westen aussehen. Unzufriedene und unglückliche Menschen, weil sie normalerweise unsichtbar sind und eine starke Verachtung für Politiker haben.« Dies erklärt, warum das Rassemblement National strategisch äußerst vorsichtig war. Sie befürchten, dass sie, wenn sie versuchen, die Bewegung zu offensichtlich zu kooptieren, die Demonstrant*innen gegen sich aufbringen könnten. Sie beschlossen stattdessen, die Demonstrationen verbal zu unterstützen, ohne dass ihre Führer neben den Demonstranten auf der Straße marschieren. Sie haben sich auf die Kommunikation und Verteidigung einiger der »42 Forderungen« in den großen Medien konzentriert. Marion Maréchal Le Pen, Nichte von Marine Le Pen, sagte, dass sie am 24. November auf den Champs Elysées anwesend war und bezeichnete sich selbst als »leidenschaftliche moralische Unterstützerin für die Anliegen und Leiden der Gelben Westen« und behauptete, »viel Mitgefühl für sie« zu haben.
Vorbereitung auf das Unbekannte
Frustriert darüber, dass es nicht gelungen war, die Bewegung durch den Dialog zu neutralisieren, und aus Angst, dass die zweite Woche in Folge Bilder des Chaos auf den Straßen von Paris die Medien dominieren würden, beschloss die Regierung, alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um ihre kostbare republikanische Ordnung während der Demonstrationen am Samstag, den 1. Dezember, aufrechtzuerhalten.
Um die Hauptstadt zu sichern, Konfrontationen zu verhindern (oder einzudämmen) und das Eindringen von Radikalen und »extremistischen Elementen« zu verhindern, hat die Regierung für diesen Tag 5000 Anti-Riot-Polizisten (Gendarmen und CRS) organisiert. Ihre Aufgabe war es, alle Zugangswege zu den Champs Elysées, dem Treffpunkt der Demonstration, zu kontrollieren. Um sicherzustellen, dass keine gefährlichen Gegenstände oder mögliche Wurfgeschosse in die Demonstration werden, kontrollierten die Behörden die Zugangspunkte und durchsuchten jede einzelne Person, die in den Umkreis wollte. Diese Kontrollen sollten von 6 Uhr morgens am Samstag, dem 1. Dezember, bis 2 Uhr morgens am Sonntag, dem 2. Dezember, in Kraft sein.
Zum Schutz der wichtigsten Gebäude, Symbole und Institutionen haben die Behörden Sperrgebiete ausgewiesen, in denen die Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde. Alle Zugänge zum Elysée (Präsidentenpalast), zum Place Beauvau (Innenministerium), zum Hôtel Matignon (Büro des Premierministers) oder zur Nationalversammlung waren für diesen Tag komplett abgesperrt.
Ein weiterer Grund, warum die Regierung all diese Sicherheitsmaßnahmen ergriffen hatte, war, dass die Gelben Westen nicht die einzige Gruppe waren, die an diesem Tag in Paris demonstrierte. Um 10 Uhr wollten sich die Eisenbahner*innen in der Nähe des Bahnhofs Saint Lazare versammeln, um ihre soziale Stellung zu verteidigen; sie planten, sich nach ihrer Aktion den Gelben Westen anzuschließen. Um 12 Uhr versammelten sich andere Gewerkschaften zu einem traditionellen jährlichen Marsch gegen Arbeitslosigkeit und Prekarität. Um 13 Uhr riefen mehrere Kollektive aus den Pariser Vororten und Antifaschist*innen dazu auf, sich in Saint Lazare zu treffen, um sich der Bewegung anzuschließen.
Zusammengefasst wurde am Vorabend des 1. Dezember, dem nationalen Aktionstag, alle Elemente kombiniert, um eine wirklich explosive Mischung auf die Straßen von Paris zu bringen.
Die Zündschnurr brennt…
Aufgrund der immensen Tragweite dessen, was am 1. Dezember geschah, können wir keine vollständige Liste aller Aktionen und Konfrontationen aufstellen, die an diesem Tag in den Straßen von Paris stattfanden. Dies ist nur ein unvollständiger Überblick über den Verlauf der Ereignisse. In Bezug auf die hier präsentierten Bilder und Geschichten muss mensch auch sagen, dass einige der Protagonist*innen Mitglieder der extremen Rechten sein könnten.
Am frühen Morgen begannen die ersten Demonstrant*innen, sich auf den Champs Elysées zu treffen. Die Polizei war bereits im Einsatz und in Alarmbereitschaft; alle Gelben Westen wurden durchsucht, bevor sie zur Demonstration gelassen wurden. Die von der Regierung eingerichtete Falle war aktiviert. In den ersten Stunden des Tages verhaftete die Polizei mehrere Personen wegen des Vorwurfs, Waffen und Wurfegschosse dabei zu haben.
Überraschenderweise schützte der von den Behörden aufgestellte Sicherheitsplan die Allee der Champs Elysées, nicht aber die Place de l‘Etoile – den großen Kreisverkehr um den Arc de Triomphe. Der 1806 von Napoléon I. erdachte Arc de Triomphe wurde 1836 von Louis Philippe, dem damaligen König von Frankreich, eingeweiht, der das Denkmal den Armeen der Revolution und des Reiches widmete. Im Jahr 1921 begrub die französische Regierung den unbekannten Soldaten des Ersten Weltkriegs unter ihr. Die Flamme der Erinnerung wird jeden Tag neu entzündet und offizielle militärische Gedenkfeiern finden jährlich vor der Flamme statt. Das Denkmal ist ein Symbol der französischen Pracht.
In dem Wissen, dass der Arc de Triomphe nicht unter polizeilicher Kontrolle stand, und in dem Wissen, dass sie sich, um auf die Champs Elysées zu gelangen, einer Durchsuchung unterziehen und ihre Identität überprüfen lassen mussten, begannen sich die Demonstrant*innen um das Denkmal herum, direkt außerhalb des von der Polizei kontrollierten Bereiches, zu versammeln. Um 8 Uhr morgens waren bereits etwa hundert Gelbe Westen vor Ort, während der offizielle Beginn der Demonstration um 14 Uhr geplant war. Kurz darauf, gegen 9 Uhr, begannen die ersten Konfrontationen, als Gelbe Westen versuchten, sich durch einen Kontrollpunkt zu zwingen, um die Champs Elysées zu betreten. Die Polizei reagierte sofort mit Tränengas, welches nur zur weiteren Eskalation beitrug.
Aus diesem Blickwinkel ist es nicht einfach, genau zu sagen, wer die ersten Konfrontationen initiiert oder daran teilgenommen hat. Wie in der vergangenen Woche waren bei den Konfrontationen alle beteiligt: von Neonazis und anderen Faschisten bis hin zu Anarchist*innen, Antikapitalisten und Antifaschistinnen, und nicht zu vergessen wütende Gelbe Westen mit diversen politischen Hintergründen.
Wie bei der Bewegung der Gelben Westen üblich, war die Situation recht verwirrend. Einige Demonstrant*innen versammelten sich um die Flamme des unbekannten Soldaten, als ob sie Krieg, Nationalismus und Imperialismus würdigten. Andere begannen, die Marseillaise zu singen – die französische Nationalhymne. Unterdessen warfen die entschlosseneren Demonstranten Teile des Kopfsteinpflasters auf die Polizei, errichteten Barrikaden in den benachbarten Straßen und setzten Autos in Brand.
Bald war der gesamte Kreisverkehr in Tränengas gehüllt. Die Situation eskalierte weiter. Jedes Mal, wenn die Polizei zu nah kam, begrüßten die Randalierer*innen sie mit einem Haufen Kopfsteinpflaster und anderen Wurfgeschossen. Inzwischen tauchten die ersten Tags auf dem Arc de Triomphe auf; dieses imperiale Symbol wurde schließlich entweiht! Traurigerweise, obwohl einige der Tags eindeutig von anarchistischen und anti-staatlichen Gefährt*innen stammten, wurden andere von Faschisten geschrieben.
Die Anwesenheit von organisierten faschistischen Gruppen während der Zusammenstöße um den Place de l‘Etoile am Morgen des 1. Dezember ist unbestreitbar. Mehrere Mainstream-Medien, die über die Bewegung berichteten, erwähnten ihre Präsenz unter den Gelben Westen. In einem Artikel schreibt ein Journalist: »Mehrere Polizeifahrzeuge mussten den Place des Ternes hastig verlassen, nachdem sie von Dutzenden von Personen angegriffen wurden, die sichtbare rechtsextreme Symbole trugen«. In einem weiteren Artikel berichtet der Autor über die Präsenz von Monarchisten, traditionalistischen katholischen Gruppen sowie nationalistischen und faschistischen Gruppen wie der GUD (Groupe Union Défense), einem rechtsextremen Studentenverband und untermauerte diese Behauptungen mit Fotos.
In ihrem persönlichen Bericht über die Demonstration der Gelben Weste erwähnen anarchistische Gefährten auch die Präsenz der extremen Rechten in der Nähe des Place de l‘Etoile:
Als wir gegen 12 Uhr am Place de l‘Etoile ankamen, war dort schon seit fast drei Stunden ein riesiges Chaos. Nach Angaben einiger Genossen, die wir vor Ort trafen, waren die Konfrontationen am Morgen unter dem Arc de Triomphe extrem heftig gewesen. Es schien, dass viele Menschen verletzt worden waren. Auch in diesem Bereich waren tagsüber radikale rechtsextreme Gruppen am stärksten vertreten. Die GUD war dabei. Wir sahen eine große Anzahl von Wänden, die mit keltischen Kreuzen bedeckt waren. Auch die extreme Rechte in ihrer »legalistischen« Tendenz schien bei den Demonstranten stark vertreten zu sein. Es schien uns, und auch nach mehreren Anderen, dass diese faschistischen Tendenzen den ganzen Tag über rund um den Place de l‘Etoile präsent waren. Dennoch war es schwierig, sie wirklich zu quantifizieren.
Der Arc de Triomphe stand den ganzen Morgen über im Mittelpunkt der Konfrontationen. Die Polizei versuchte wiederholt, Demonstranten vom historischen Denkmal zurückzuschlagen, aber das nicht ohne Schwierigkeiten, wie diese Szene zeigt, in der eine Gruppe von Demonstrant*innen eine Anti-Riot-Polizeieinheit angriff, die versuchte, das Gebäude zu schützen. Während dem Angriff wurde ein Polizist von seiner Einheit isoliert und von Gelben Westen verprügelt.
Dieses Ereignis veranschaulichte einmal mehr die Verwirrung und Uneinigkeit innerhalb der Bewegung. Während einige Gelbe Westen den Polizisten angriffen, halfen ihm andere, vor seinen Angreifern zu fliehen, damit er wieder zu seiner Einheit zurückkehren konnte. Später brachte eine weitere Gelbe Weste sogar ein Polizeischild an die Polizei zurück, nachdem Demonstrant*innen es beschlagnahmt hatten.
Auf der anderen Seite der französischen Hauptstadt versammelten sich andere Menschen mit Gelben Westen im Stadtteil Bastille und gingen die große Straße von Rivoli entlang, vorbei am Pariser Rathaus, mit dem Ziel, die Champs Elysées von der anderen Seite aus zu betreten – über den Place de la Concorde.
…der Zeitpunkt der Explosion.
Der folgende Abschnitt basiert auf von Anarchist*innen veröffentlichten Erzählungen, ergänzt durch Informationen aus Mainstreammedien und anderen Quellen.
Gegen 13 Uhr, als der Arc de Triomphe noch von massiven Tränengaswolken umhüllt war, beschloss eine Gruppe von Gefährt*innen, ihre Strategie zu ändern und eine neue Dynamik zu schaffen, indem sie eine wilde Demonstration startete und den Stillstand im Kreisverkehr hinter sich ließ. Schnell verließ eine Zug von 800 Personen den Platz und betrat die Straßen der wohlhabenden Pariser Viertel. Die Menge war ziemlich heterogen, aber die Atmosphäre schien freundlich zu sein.
Auf der Hoche-Allee stieß die wilde Demonstration auf einen großen Zug von Eisenbahnarbeiter*innen, die zum Bahnhof Saint Lazare unterwegs waren, um sich dem Nachmittagsaufruf der antifaschistischen und Vorstadt-Kollektive anzuschließen. Ohne zu zögern, vereinigten sich die beiden Züge und liefen weiter zum Treffpunkt. Diese Entwicklung verschob den Horizont der Möglichkeiten für den Rest des Tages.
Als alle Züge im luxuriösen Stadtteil Opéra zusammenkamen, liefen Tausende von Menschen durch die Straßen. Vor über einem Jahrhundert, während der Belle Epoque, demonstrierten Anarchist*innen wie Emile Henry das Konzept der Propaganda der Tat in diesem Viertel, indem sie die Reichen und ihre Symbole in ihrem eigenen luxuriösen Viertel angriffen. Im Gegensatz zum Ambiente rund um den Arc de Triomphe war die Atmosphäre hier angenehm. In dieser großen Prozession gab es Anarchisten, Antifaschistinnen, queere Radikale, Kollektive gegen Polizeigewalt, Eisenbahner, Gärtnerinnen, einige Leute, die wir als Randalierer ohne Adjektive bezeichnen könnten, und viele andere, einschließlich der einfach Neugierigen. Zum ersten Mal schien es möglich, dass eine Art antikapitalistische und antifaschistische Kraft in den unruhigen Gewässern der Bewegung Fuß fassen könnte.
Richtung Süden kam der große Zug schließlich an der Rue de Rivoli an – einer großen Straße, die die Bastille mit dem Place de la Concorde verbindet, dem streng bewachten Bereich in der Nähe des Präsidentenpalastes. An diesem Punkt beschloss ein Teil der Menge, nach Osten zu gehen und weiter zum Rathaus von Paris zu laufen – wo sie von der Polizei mit Tränengas begrüßt wurden. Der Rest des Zuges, etwa 1500 Personen, war entschlossen, den entgegengesetzten Weg zu gehen und sich einen Weg durch den Polizeikontrollpunkt in der Nähe des Place de la Concorde zu schaffen.
Als sie sich dem Platz näherten, blockierten zahlreiche Polizeiwagen und ein Wasserwerfer ihren Weg. Es folgten ununterbrochene und intensive Konfrontationen zwischen Radikalen und Polizeikräften. Barrikaden tauchten an verschiedenen Fronten auf, Gegenstände wurden auf die Polizei geworfen, während ein Regen von Tränengasbehältern auf die Demonstrant*innen prasselte und der Wasserwerfer sie mit voller Wucht angriff. Schließlich schien der Wasserwerfer jedoch einige technische Probleme zu haben. Einige Demonstrant*innen nutzten die Gelegenheit, ein Auto in Brand zu setzen, das als zusätzliche Barrikade genutzt werden sollte.
Weiter entfernt, in der Nähe von Saint Augustin, versammelten sich seit 15 Uhr etwa 3000 Personen an einer wichtigen Kreuzung und bauten zahlreiche Barrikaden in der Gegend, um den Verkehr zu blockieren. Die Menschen äußerten freudig den Wunsch, Präsident Macron zu stürzen. Die Zäune einer nahegelegenen Baustelle wurden für den Bau neuer Barrikaden genutzt, während andere in Brand gesteckt wurden. Etwas weiter weg blockierten die Polizeikräfte bereits die Straßen. An dieser Stelle erschien auch die berittene Polizei. Ohne zweimal zu überlegen, begannen die Demonstrant*innen, den Asphalt zu zerschlagen und Steine auf die Polizei zu werfen. Mehr als eine Stunde lang fand an dieser Kreuzung eine Konfrontation statt. Das zeigt, wie entschlossen die Menschen an diesem Nachmittag waren. In der Zwischenzeit wurde eine nahe gelegene Bank schwer beschädigt, während andere Demonstrant*innen einen LKW umkippten. Die Polizei räumte schließlich mit einem massiven Tränengasangriff den Bereich.
Mehrere verschiedene Teile von Paris waren völlig chaotisch. Auf dem schicken Haussmann-Boulevard, benannt nach dem reaktionären Stadtplaner, der versuchte, Paris nach der Revolution von 1848 aufstandsfest zu machen, brannten drei Autos. Mehrere Straßen weiter wurde ein leeres Polizeiauto zerstört, geplündert und in Brand gesteckt. Eine Grupper Radikaler traf am Place Vendome ein, der für seine luxuriösen Juweliergeschäfte, das Justizministerium und die berüchtigte Säule, die die Kommunarden einst zerstörten, bekannt ist. Plastik-Weihnachtsbäume, die in den nahegelegenen Straßen gefunden wurden, wurden als Barrikaden aufgetürmt und in Brand gesteckt.
Während eine dicke Rauchwolke das Opernviertel verhüllte, beschlossen die Antikapitalist*innen, sich in Richtung Börse zu bewegen, dem historischen Börsengebäude – einem weiteren Symbol des Kapitalismus und der Staatsmacht. Seit 1998 werden in diesem Gebäude keine finanziellen Transaktionen mehr getätigt. Dennoch wurden mehrere Fenster eingeschlagen, die Haustüren aufgebrochen und ein Feuerwerk in die Halle geschleudert. Dann verließ die Menge das Gelände und griff auf dem Weg einen weiteren Polizeiwagen in einer benachbarten Straße an. Sie benutzten Stadtmobiliar und Baumaschinen, um den Verkehr zu blockieren, zerstörten die Frontfenster mehrerer Banken und verschwanden in der frühen Nacht.
Die Entstehung von einer Art antikapitalistischem und antifaschistischem Block war eine wichtige Entwicklung innerhalb der Bewegung der Gelben Westen. Der Block stützt sich wahrscheinlich auf jahrelange Erfahrungen mit Demonstrationen wie den Protesten am 1. Mai und in der Loi Travail Bewegung und nutzte die allgemeine Verwirrung, um in ganz Paris mehrere Aktionen mit klaren Zielen und Absichten durchzuführen.
Neben den Auseinandersetzungen mit der Polizei gab es auch mehrere Konfrontationen mit Faschisten. Mitglieder der GUD wurden auf einer Barrikade mit einem Flagge mit keltischem Kreuz gesehen. In einem weiteren Fall erkannten die Demonstrant*innen Yvan Bennedetti an, einen bekannten Nazi und ehemaligen Präsidenten des ultranationalistischen Oeuvre Française, der sich nach der Ermordung des antifaschistischen Clément Méric im Jahr 2013 auflöste. Er wurde effektiv aus dem Bereich, wenn nicht gar aus der Bewegung als Ganzes, herausgedrängt.
Am Samstag, den 1. Dezember, wehte ein aufständischer Wind durch die Straßen von Paris. Viele tausend Menschen entfesselten ihre Wut gegen Symbole der Herrschaft: Die Polizei wurde ständig bedrängt; Banken und Versicherungen wurden systematisch zerstört; zahlreiche Geschäfte wurden geplündert, einige in Brand gesteckt; Autos und Stadtmobiliar wurden zum Bau von Barrikaden verwendet; mehrere Privatvillen wurden zerstört und in Brand gesteckt; historische Denkmäler und republikanische Symbole wurden besetzt oder angegriffen, darunter die Börse und der Arc de Triomphe. Den Demonstranten gelangten in das unter dem historischen Denkmal gelegene Museum und plünderten und zerstörten dort einiges.
Angesichts dieser Entschlossenheit waren die Regierung und die Polizei völlig überfordert. Es gibt mehrere Erklärungen dafür. Der erste Grund ist das breite Spektrum der Menschen, die an den Unruhen teilnahmen. Es waren nicht nur Anarchist*innen und antikapitalistische Radikale, die die Polizei angriffen, sondern auch eine große Zahl anderer wütender Menschen in gelben Westen, darunter Rechtsextreme und andere Randalierer. Zweitens veränderten und entwickelten sich die Proteste den ganzen Tag über und nahmen unvorhersehbare neue Formen an. Schließlich war die extreme Mobilität, die diffuse Organisation und die Entschlossenheit der Demonstrant*innen eine große Herausforderung für die Polizei, die durch ihre Aufgabe, vordefinierte Bereiche zu verteidigen, unbeweglich wurden. Da die meisten Polizeikräfte auf Positionen in den Sperrzonen eingesetzt wurden oder sich mit Konfrontationen in der Nähe der Champs Elysées beschäftigten, konnten sie nicht auf die Entwicklungen in anderen Stadtteilen von Paris reagieren. Dennoch wurden mehrmals Mitglieder der BAC (Anti-Kriminalitäts-Brigade) auf den Straßen gesehen, die wahllos Gummigeschosse auf Demonstrant*innen schossen.
Viele Offizielle und Medien sind sich einig, dass Paris seit 1968 keine solchen Unruhen mehr erlebt hat. Zu dieser Einschätzung müssen wir die folgenden Zahlen hinzufügen.
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Insgesamt wurden 412 Personen verhaftet und 378 von ihnen inhaftiert.
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Es ist schwer zu sagen, wie viel Munition die Polizei benutzt hat; die Zahlen variieren stark je nach Quelle. Es scheint jedoch, dass sie während der Konfrontationen etwa 8000 Tränengasgranaten, 1000 Stachelkugelgranaten, 339 GLI-F4 Blendgranaten, 1200 Gummigeschosse und 140.000 Liter Wasser eingesetzt haben.
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Am Ende wurden allein während der Pariser Demonstration 133 Personen verletzt, während die Behörden alleine 112 Autos, 130 Teile Stadtmobilar (Bauzähne, Bänke, etc) und sechs Gebäude zählten, die zu insgesamt 249 Brände führten.
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Der Gesamtbetrag der Sachbeschädigung könnte 4 Millionen Euro erreichen.
Das Feuer breitet sich aus.
Paris war nicht der einzige Ort in Frankreich, an dem Gelbe Westen ihre Wut mit Aktionen zum Ausdruck brachten. In verschiedenen Städten versammelten sich Demonstrant*innen zu diesem dritten landesweiten Aktionstag; einige von ihnen waren genauso entschlossen wie diejenigen, die in Paris auf die Straße gingen.
In Nantes fanden die ersten Aktionen am Flughafen statt, wo es den Demonstrant*innen gelang, die Rollbahn zu betreten. Am Nachmittag versammelten sich etwa tausend Gelbe Westen in den Straßen von Nantes. Die Demonstration dauerte nicht lange; als die Demonstrant*innen versuchten, in das Einkaufszentrum einzudringen, setzte die Polizei große Mengen Tränengas ein, um den Demonstrationszug zu zerstreuen.
In Toulouse kam es zu heftigen Konfrontationen zwischen Gelben Westen und der Staatsmacht. In Narbonne setzten Gelbe Westen eine Mautstelle in Brand. In Bordeaux kam es zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstrant*innen, als die Menge der Gelben Westen am Rathaus ankam und versuchte, mit Gewalt einzudringen.
In Tours zog eine Demonstration etwa 1300 Personen an. Kurz nach Beginn der Demo begannen die Teilnehmer*innen, Schaufenster zu zerschlagen, und die Konfrontationen mit der Polizei eskalierten. Eine Person verlor seine Hand in Folge einer von der Polizei geworfenen Granate.
In Marseille begannen die Konfrontationen am Abend. Die Demonstrant*innen zündeten Müllcontainer an, zerschlugen mehrere Schaufenster, plünderten Geschäfte, zündeten ein Feuer vor den Rathäusern des 1. und 7. Bezirks und setzten schließlich ein Polizeiauto vor der Polizeistation Canebière in Brand. Es scheint, dass 21 Personen nach diesen Aktionen verhaftet wurden. Eine 80-jährige Frau wurde getötet, als eine Tränengasgranate sie ins Gesicht traf. Sie war dabei ihre Fensterläden zu schließen.
Schließlich versammelten sich etwa 3000 Personen in Puy-en-Velay. Gelbe Westen betraten den Innenhof der örtlichen Verwaltung mit Reifen im Gepäck und weigerten sich zu gehen. Einige von ihnen haben die Reifen in Brand gesteckt. Die Polizei versuchte, die Menge mit Tränengas zu zerstreuen, aber das steigerte nur den Zorn der Demonstrant*innen. Es folgten zahlreiche Konfrontationen. Der Präfekt selbst versuchte, mit den Demonstrant*innen zu diskutieren, um die Ordnung wiederherzustellen, aber ohne Erfolg. Am Ende, unzufrieden mit der Situation, brannten Gelbe Westen die Verwaltung nieder.
Das Nachspiel
Am Tag nach den Demonstrationen wusste die Regierung, dass sie selbst in eine Sackgasse geraten war. Präsident Macron befand sich im Rahmen der G20 auf einer Reise nach Buenos Aires; als er von der Situation in Paris erfuhr, kehrte er sofort nach Frankreich zurück, um sich mit dieser schweren politischen Krise zu befassen.
Am Sonntag, den 2. Dezember, traf Präsident Macron sich mit einigen der Polizisten und Feuerwehrleute, die am Vortag auf den Straßen waren. Er machte auch einen kleinen Rundgang durch die Schäden, die durch stundenlange aufständische Konfrontationen verursacht wurden, bevor er zum Elysée Palast zurückkehrte, um ein Notfall-Meeting mit der gesamten Regierung einzuberufen. Der Präsident ersuchte seine Minister, alle ihre Geschäftsreisen für die nächsten zwei Tage abzusagen.
Präsident Macron hat nach der Sitzung keine offizielle Erklärung abgegeben. Dennoch bat er persönlich den Premierminister Edouard Philippe, am nächsten Tag alle politischen Vorsitzenden der verschiedenen Parteien sowie die Sprecher*innen der Gelben Westen zu treffen.
In der Zwischenzeit forderte der linke Populist Jean-Luc Mélenchon, dass jede Fraktion in der Nationalversammlung, die sich der Regierung widersetzt, ein Misstrauensvotum abgeben solle, um den »katastrophalen Umgang mit der Sachen der Gelben Westen« zu verurteilen. Gleichzeitig forderte die rechtsextreme Führerin Marine Le Pen die Auflösung der Nationalversammlung. Wieder einmal ist es nicht schwer zu erkennen, wer die Situation ausnutzen will.
Am Samstagabend sagte der Innenminister, dass er bereit sei, alle Möglichkeiten zu prüfen, um den republikanischen Frieden und die Ordnung in Frankreich wiederherzustellen, und sogar den Ausnahmezustand wieder einzuführen, um die Bewegung zu bekämpfen. Das ist allerdings unnötig: In dem am 31. Oktober 2017 verabschiedeten neuen Antiterrorgesetz sind viele der Elemente, die den Ausnahmeaspekt des Ausnahmezustands ausmachten, nun vollständig in das normale französische Recht integriert – zum Beispiel die Schaffung von Sperrzonen bei Veranstaltungen.
Dennoch planten Gelbe Westen, die entschlossen waren, ihre Bewegung weiter voranzutreiben, am Sonntag, den 2. Dezember, bereits eine vierte Runde mit der Regierung und forderten einen weiteren nationalen Aktionstag am Samstag, den 8. Dezember. Am selben Tag soll der globale Klimamarsch in Paris stattfinden. Aus diesem Anlass haben Radikale zur großen Beteiligung aufgerufen. Wir werden sehen, ob es möglich ist, dass diese beiden Bewegungen eine Verbindung herstellen.
Am Dienstag, den 4. Dezember, sagte Premierminister Edouard Philippe, dass die Regierung beschlossen habe, die Erhöhung der Kraftstoffsteuer für die folgenden sechs Monate auszusetzen. Darüber hinaus setzt die Regierung für die gleiche Zeit auch neue, strengere Regeln für Fahrzeugkontrollen aus und verpflichtet sich, die Strompreise bis Mai 2019 nicht zu erhöhen. Darüber hinaus kündigte der Premierminister an, dass zwischen dem 15. Dezember 2018 und dem 1. März 2019 eine Debatte über Steuern und öffentliche Ausgaben auf nationaler Ebene stattfinden werde. Mit diesen Zugeständnissen will die Regierung zeigen, dass sie offen für den Dialog mit den Gelben Westen ist.
Dennoch scheint es, dass ein Teil der Gelben Westen nicht bereit ist, den Kampf aufzugeben. Die Sprecher*innen der Bewegung lehnten die Einladung des Premierministers ab, einen Ausweg aus der aktuellen Situation zu finden; mehrere lokale Gruppen rufen zur Fortsetzung ihrer Aktionen auf.
Bislang scheint die Ankündigung der Regierung keine großen Auswirkungen in den Reihen der Bewegung gehabt zu haben. Seit Beginn der Bewegung am 17. November ist die Zahl der Demonstrant*innen mit zunehmender Konfliktintensität gesunken. Doch auch wenn einige Gelbe Westen aufgrund der zunehmend konfrontativen Strategie ausgeschieden sind, zeigte der letzte Aktionstag, dass einige Demonstrant*innen entschlossen sind, weiterzumachen.
Wir haben einen noch unbekannten Horizont vor uns – und so viele Morgendämmerungen stehen noch bevor.
Einige Reflektionen
Wie wir gehofft haben, ist innerhalb der Bewegung der Gelben Westen eine antikapitalistische und antifaschistische Front entstanden. Damit wurde am 1. Dezember in Paris ein Konvergenzpunkt und Katalysator für Menschen geschaffen, die sich nicht mit nationalistischen Narrativen identifizieren. Hoffentlich wird dies dazu beitragen, einen Diskurs zu verbreiten, der die strukturellen Ursachen von Macrons Programmen identifiziert, anstatt sie als »Verrat« eines Politikers zu betrachten, der einfach durch einen nationalistischeren Populisten ersetzt werden sollte.
In nur drei Wochen hat sich die Bewegung der Gelben Westen von der Blockade des Verkehrs zur Zerstörung der wohlhabenden Viertel von Paris entwickelt. Dies veranschaulicht die Wirksamkeit von Direkten Aktionen, der Horizontalität und der Weigerung zu verhandeln. In der Ära des globalisierten Kapitalismus wird jede Bewegung, die sich gegen den neoliberalen Angriff auf den Lebensstandard der gewöhnlichen Menschen stellen will, gezwungen sein, auf diese Weise zu eskalieren und allen Versuchen zu widerstehen, sie zu kontrollieren, zu repräsentieren oder zu beschwichtigen.
Wie viele Anarchist*innen bereits betont haben, erfordert ein effektiver Widerstand gegen den Kapitalismus die Beteiligung eines breiten Spektrums von Menschen, nicht nur von Menschen, die ein gemeinsames ideologischen Rahmenwerk haben. Das bedeutet, dass sich eine Bewegung außerhalb der Kontrolle einer Gruppe oder Position ausbreiten muss. In der Tat können wir die Bewegung der Gelben Westen als eine populäre Aneignung der Konfrontationstaktiken verstehen, die Anarchist*innen und andere Rebellen in Frankreich seit Jahren anwenden – zum Beispiel bei den Protesten gegen Loi-Travail und am 1. Mai.
Doch die weit verbreitete Aneignung radikaler Taktiken ist nicht unbedingt ein Schritt in eine bessere Welt, wenn die Menschen nicht auch die Werte und Visionen aufnehmen, die zu ihnen gehören. Der Aufstieg von Trump und Graswurzel-Nationalismus in den USA war bei jedem Schritt von der rechtsextremen Aneignung linker und anarchistischer Rhetorik und Taktik geprägt, durch die sie ihre eigene Agenda vorangetrieben haben.
Was innerhalb einer Bewegung gegen die amtierende Regierung passiert, ist genauso wichtig wie das, was in den Konflikten zwischen dieser Bewegung und der Polizei passiert. Deshalb haben wir betont, wie wichtig es ist, an zwei Fronten zu kämpfen – gegen die Polizei von Macron und ebenso gegen Faschisten und Nationalisten.
So etwas wie eine unpolitische Bewegung gibt es nicht.
Die Bewegung hat von Anfang an behauptet, einen »unpolitischer« Raum zu schaffen, der für alle offen ist. Dies hat Populisten und Nationalisten einen fruchtbaren Boden für die Förderung ihrer Ideen geboten. In den meisten Fällen waren sie nicht die Mehrheit derjenigen, die auf der Straße aktiv waren, aber sie haben den Diskurs oft online bestimmt. Auch faschistische Gruppen haben an Sichtbarkeit gewonnen, auch wenn ihre Zahl vergleichsweise gering erscheint. Sie sind jetzt besser organisiert als zu Beginn der Bewegung. Wir dürfen die Straßen und die Bewegung gegen die Rechten nicht aufgeben.
Keine soziale Bewegung ist ein Monolith; jede ist ein heterogener Raum der ständigen Veränderung und Spannung. Es ist töricht, Bewegungen für würdig oder unwürdig zu halten, wie der Papst im Gericht zu stehen und diejenigen, die unseren Standards nicht entsprechen, dem Einfluss unserer Gegner zu überlassen. Stattdessen können wir versuchen auf eine Weise teilzunehmen, die es den emanzipatorischen Strömungen in ihnen ermöglicht, an Dynamik zu gewinnen und sich von den reaktionären Strömungen zu abzugrenzen. Die Herausforderung besteht darin, unseren Mitwirkenden nützliche Beispiele dafür zu bieten, wie sie ihre unmittelbaren Probleme lösen und mit Visionen eines langfristigen Wandels verbinden können – und das alles ohne Werkzeuge oder Impulse zu schaffen, die Faschisten, autoritäre Linke oder andere Opportunisten nutzen können.
Vielleicht sollten wir mehr über das Verhältnis zwischen Straßenschlachten und dem Kampf der Ideen nachdenken. Historisch gesehen haben Anarchist*innen oft angenommen, dass diejenigen, die bereit sind, die meisten Risiken einzugehen, in der besten Position sind, um den Charakter und die Ziele einer Bewegung zu bestimmen. Vor Ort ist dies oft der Fall – zum Beispiel, wenn eine Bewegung den Konflikt mit der Polizei eskaliert, können dadurch gemäßigte und legalistische Strömungen zum Rückzug gezwungen werden. Aber wir sollten uns auch an all die Male erinnern, in denen Rebellen aus unterdrückten Gruppen die größten Risiken eingegangen sind und die größte Unterdrückung erlitten haben, nur um zu erleben, wie Autoritäten ihre Opfer nutzen, um ihre Macht zu festigen. Dies ist eine sehr alte Geschichte, von den französischen Revolutionen von 1830, 1848 und 1870 und dem italienischen Risorgimento bis hin zur Russischen Revolution von 1917 und der Ägyptischen Revolution von 2011.
Wir sollten all diese Lektionen im Hinterkopf behalten, wenn wir abwägen, ob der beste Weg, innerhalb einer Bewegung Einfluss zu nehmen, darin besteht, diejenigen zu sein, die die meisten Risiken in ihr eingehen. Wie können wir sicherstellen, dass unsere Gegner innerhalb der Bewegung uns nicht zwingen können, die Mehrheit der Opfer zu stellen, während sie einfach die Macht übernehmen?
Wenn unsere einzige Idee, wie wir innerhalb einer Bewegung Einfluss gewinnen können, darin besteht, die gefährlichsten oder störendsten Aktivitäten auszuüben, können rechtsextreme Gruppen mit größeren sozialen Privilegien und mehr Zugang zu Ressourcen uns auf diesem Spielfeld schlagen und gleichzeitig weniger Verluste hinnehmen.
Vor einem Jahrzehnt, in weniger komplizierten Zeiten, stellten sich einige Anarchist*innen und Autonome vor, dass Menschen in Aufruhr nicht durch eine gemeinsame Reihe von Werten und Bestrebungen verbunden sind, sondern einfach dadurch verbunden werden könnten, dass sie sich gegenüber den Autoritäten unkontrolliert verhalten. Es ist noch heute möglich, Beispiele für diese »antiideologische« Haltung in Frankreich zu finden, obwohl zumindest einige derjenigen, die die Gelbe Weste tragen, einfach darum kämpfen, andere Autoritäten zu inthronisieren, die genauso gefährlich sein werden, wenn sie an die Macht kommen. Es wäre nicht das erste Mal, dass rebellische Straßengewalt eine neue repressive Regierung ins Amt brachte.
Ja, die herrschende Ordnung muss mit allen notwendigen Mitteln zersetzt werden. Das Gleiche gilt für die Befürworter*innen rivalisierender herrschender Ordnungen. Yvan Bennedetti aus einer Demonstration zu vertreiben ist genauso wichtig wie die Verteidigung gegen die Polizei.
Gleichzeitig muss allen neu mobilisierten und politisierten Teilnehmer*innen dieser Bewegungen klar sein, dass wir nicht nur Roboter sind, die nach einem vorprogrammierten ideologischen Rahmen handeln, sondern dass wir wirklich hoffen, uns mit ihnen zu verbinden, Ideen und Einflüsse mit ihnen auszutauschen und gemeinsam an Lösungen für unsere gemeinsamen Probleme zu arbeiten. Wir versuchen nicht, sie zu verführen, unserer Partei beizutreten, sondern versuchen, gemeinsam etwas Neues zu werden. Unsere Ablehnung von Autoritären ist kein Grundsatz einer Religion, sondern eine hart erarbeitete Lektion darüber, was es braucht, um Räume der Freiheit und Möglichkeit zu schaffen.
In diesem Zusammenhang sind die Momente des Dialogs zwischen Fremden, die auf der Straße stattfinden, ebenso wichtig wie die mutigen Taten, mit denen Menschen die Polizei in Schach halten und Faschisten vertreiben kann. Seien wir nicht naiv, verleugnen wir nicht unsere Meinungen oder verlassen wir unsere Überzeugungen, aber wir bleiben offen für die Möglichkeit, dass wir stärker und lebendiger werden könnten, indem wir mit anderen zusammenarbeiten, die wir noch nicht getroffen haben, die unsere Probleme, aber nicht unsere Bezugspunkte teilen.
Auf lange Sicht
Früher oder später wird dieser Moment der Krise vorbei sein – entweder werden die Führer einen Deal mit dem Staat abschließen und die Polizei wird es schaffen, diejenigen zu isolieren, die sich weigern zu kooperieren, oder die Regierung Macrons wird fallen und durch eine andere ersetzt werden, die verspricht, die Probleme zu lösen, die die Menschen auf die Straße trieben.
Und was dann? Wird die extreme Rechte behaupten können, dass sie diejenigen waren, die den Sieg gegen Macron erzielt haben? Die meisten der oben genannten 42 Forderungen sind sowohl mit linken als auch mit rechtsextremen populistischen Programmen vereinbar; es wäre nicht verwunderlich, wenn die Bewegung in zwei Teile geteilt und von den beiden populistischen Parteien kooptiert würde. Seit den Unruhen vom vergangenen Wochenende sind beide populistischen FührerInnen durch die Forderung, Präsident Macron und seine Regierung zu stürzen, motiviert. Es ist durchaus möglich, dass nach Macron eine rechtsextreme Regierung an die Macht kommt.
Was sollten wir jetzt tun, um uns auf diese Situation vorzubereiten, um sicherzustellen, dass sich die Menschen weiterhin auf den Straßen gegen die nächste Regierung versammeln?
Wenn wir kämpfen – in Frankreich, in Belgien und überall sonst, wo neoliberale Regierungen uns Sparmaßnahmen aufzwingen –, lasst uns auch bedenken, wie wir aus jedem Kampf herauskommen können, verbundener, erfahrener und mit einer geschärften Art und Weise, die uns vorliegenden Fragen zu identifizieren.
Viel Glück euch allen, liebe Freund*innen.