Kasachstan nach dem Aufstand

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Einschätzungen und Berichte von Anarchist*innen aus Russland und Almaty

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Im Anschluss an unsere Berichterstattung über den Aufstand in Kasachstan in der vergangenen Woche haben wir unterschiedliche Perspektiven auf die Situation aus verschiedenen russischen anarchistischen Quellen übersetzt und zwei Anarchist*innen aus Almaty, der größten Stadt Kasachstans und dem Ort, an dem die Kämpfe am heftigsten wurden, interviewt.

Dieser Text enthält auch bisher unveröffentlichte Fotos, die von unseren Kontakten in Almaty aufgenommen wurden.

  1. Januar: Eine Ansicht von Almaty. Die Fotografin: »Ein düsterer Nebel hängt über den Feuern; jetzt sieht alles nach nuklearem Winter aus.«

Die folgenden Quellen sollen dazu dienen, alle oberflächlichen Falschdarstellungen des Aufstands seitens der Behörden in Kasachstan, Russland oder den Vereinigten Staaten – oder ihrer fehlgeleiteten Unterstützer*innen – zu entlarven.

Denjenigen, die Verschwörungstheorien darüber verbreiten, dass die USA versuchen, eine »Farbenrevolution« in Kasachstan zu inszenieren, sei gesagt, dass die Proteste als Reaktion auf die Streichung der Subventionen für Gas durch die Regierung begannen, welches in Kasachstan im Rahmen eines profitablen Staatsmonopols gefördert wird. Diejenigen, die die Regierungen Kasachstans und Russlands verteidigen, verteidigen die repressiven Kräfte, die den Arbeiter*innen neoliberale Sparmaßnahmen aufzwingen. Der würdige Platz für alle, die sich wirklich gegen den Kapitalismus stellen, ist an der Seite der einfachen Arbeiterinnen und anderer Rebellen, die sich gegen die herrschende Klasse auflehnen – und nicht an der Seite der Regierungen, die vorgeben, die Demonstrant*innen zu repräsentieren, während sie sie niederschießen und inhaftieren.

Das soll nicht heißen, dass die Zusammenstöße in Kasachstan einen einheitlichen antikapitalistischen Kampf darstellen. In den glaubwürdigsten Berichten über die Zusammensetzung der Proteste wird eingeräumt, dass es ein breites Spektrum an Teilnehmer*innen gab, die unterschiedlichste Taktiken einsetzten, um unterschiedliche Ziele zu erreichen. Da wir mit den Arbeiter*innen sympathisieren, die gegen die steigenden Lebenshaltungskosten protestieren, können wir natürlich auch verstehen, warum Arbeitslose und Ausgegrenzte sich an Plünderungen beteiligen könnten.

Eine Krise, wie der Aufstand in Kasachstan, legt alle Verwerfungen innerhalb einer Gesellschaft offen. Jeder bestehende Konflikt wird auf die Spitze getrieben: ethnisierte und religiöse Spannungen, Rivalitäten zwischen den herrschenden Eliten, geopolitische Kämpfe um Einfluss und Macht. Wir haben dies in geringerem Maße in Frankreich während der Gelbwesten-Bewegung und in den Vereinigten Staaten während der George-Floyd-Rebellion und dessen Folgen gesehen, obwohl diese Krisen nicht so weit gingen wie der Aufstand in Kasachstan. In Kasachstan wird wegen der verfestigten autoritären Machtstruktur jeder Kampf sofort zu einem Alles-oder-Nichts-Unterfangen.

Wenn wir mit der These – dass die Demonstrant*innen in Kasachstan sich denselben Kräften entgegenstellten, mit denen wir anderen auf der ganzen Welt konfrontiert sind – richtig liegen, dann wirft die gewaltsame Unterdrückung dieser Proteste durch die Soldaten1 der Armeen von sechs Nationen Fragen auf, denen wir uns alle stellen müssen. Es scheint, dass solche Explosionen praktisch unvermeidlich werden, da wirtschaftliche, politische und ökologische Katastrophen überall auf der Welt, eine nach der anderen, eintreten. Wie bereiten wir uns vor, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass diese Brüche trotz aller gegen uns gerichteten Kräfte gut ausgehen? Wie können wir in Momenten mit revolutionärem Potenzial den anderen, die mit uns diese Gesellschaft bilden, transformative Fragen stellen und die Konfliktlinien auf die generativsten und befreiendsten Achsen ausrichten, auch wenn wir mit einer Vielzahl von Gruppierungen konkurrieren, die ihre eigenen Ideologien und Interessen in den Mittelpunkt stellen wollen? Wie vermeiden wir sowohl Verschwörungsmythen als auch Manipulation, sowohl Defätismus als auch Niederlage?

In der folgenden Übersicht, die in Zusammenarbeit mit russischen Anarchist*innen verfasst wurde, stellen wir die Analyse des Aufstands in Kasachstan vor, die aus der ehemaligen Sowjetregion stammt, und geben dann ein Interview wieder, das wir mit Anarchist*innen in Almaty geführt haben, sobald der Internetzugang nach der Niederschlagung wiederhergestellt war.

  1. Januar in Almaty; ein Foto von Zhanabergen Talgat.

Das Gefängnis der Nationen

Was am 1. Januar als Protest gegen die steigenden Lebenshaltungskosten begann, eskalierte schnell zu einem landesweiten Aufstand, der mit einer Kombination aus in- und ausländischer Militärgewalt brutal niedergeschlagen wurde.

Zunächst forderten die Demonstrant*innen den Rücktritt der Regierung, eine Senkung des Gaspreises und die Absetzung des Ex-Präsidenten Nursultan Nasarbajew, des ›Alten‹ von Kasachstan, vom Vorsitz des Nationalen Sicherheitsrates. Der Slogan des ganzen Landes lautete in diesen Tagen ›Shal ket!‹ - ›Alter, geh weg!‹. Als die Proteste an Schwung gewannen, kamen die Menschen schnell zu dem Punkt, dass sie nichts Geringeres als einen vollständigen Wechsel der Regierung, einschließlich der Absetzung des derzeitigen Präsidenten Kassym-Jomart Tokajew, akzeptieren wollten.

Das Regime versuchte, die Proteste zu unterdrücken. Den Demonstrant*innen gelang es zwischenzeitlich jedoch der Polizei Waffen abzunehmen und sich zu wehren, Geschäfte zu plündern und städtische Gebäude niederzubrennen oder zu besetzen. Präsident Tokajew verhängte den Ausnahmezustand und schickte das Militär gegen die Demonstrant*innen mit dem Befehl, jeden, der es wagte, Widerstand zu leisten, sofort zu erschießen. Gleichzeitig bat Tokajew offiziell die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS, bestehend aus Russland und mehreren Nachbarländern) um Unterstützung bei der Wiedererlangung der Kontrolle über das Land.

Nach Angaben des kasachischen Innenministeriums wurden während der Demonstrationen fast 8000 Menschen verhaftet und mindestens 164 Menschen getötet; es kursieren seitdem auch weitaus höhere Zahlen. Einige prominente Bloggerinnen und Gewerkschaftsführer sind Berichten zufolge verschwunden. Das Internet war tagelang abgeschaltet. Auf den Plätzen und auf der Straße wurden Menschen von Scharfschützen und anderen Soldaten erschossen.

Die militärische Niederschlagung des Aufstands, einschließlich des Eingreifens der OVKS, spielte eine Schlüsselrolle für das Ergebnis. Seit dem 10. Januar haben Medienberichte und Aussagen von Menschen in Kasachstan gezeigt, dass die Kämpfe in Almaty eingestellt wurden und Massenversammlungen in anderen Städten aufgehört haben.

Anarchist Fighter, eine anarchistische Plattform, die von Russland aus die Ereignisse beobachtet, schreibt auf ihrem Telegram-Kanal:

1) OKVS-Intervention. Alle mehr oder weniger vernünftigen Quellen unter den Kasach*innen sehen darin eine Intervention und einen Angriff des ›Großen Bruders‹ auf ihre Souveränität. Jede Stunde der Anwesenheit dieser Kräfte im Land vervielfacht die Unzufriedenheit und den Ärger;

2) Die autoritäre Herrschaft ist nicht verschwunden. Präsident Tokajew hat mehr Macht in seine Hände gelegt, ausländische Militärs eingeladen und seinen Truppen befohlen, »ohne Vorwarnung zu schießen«… Allerdings sind die Kasach*innen nicht an die Brutalität der Regierung gewöhnt. Das hält sie nicht auf, und die Unzufriedenheit mit der Regierung reißt nicht ab.

3) Die Wirtschaftskrise wird ohne grundlegende Reformen in Richtung sozialer Gerechtigkeit nicht überwunden werden. Die Durchsetzung dieser ist im Grunde nur ein Aufschub der Preiserhöhungen. Maßnahmen zur Überwindung der Armut und zur Verringerung der Ungleichheit in der Gesellschaft werden von den Behörden nicht angeboten. Folglich wird die von ihnen geschaffene Unzufriedenheit auch nicht abebben.

Im 21. Jahrhundert wird die vorherrschende Gesellschaftsordnung nur noch durch eine immer stärkere Anwendung roher Gewalt aufrechterhalten.


»Wahhabiten, Terroristen, Demonstranten« - Fehlinformationen über den Aufstand

Laut dem avtonom.org-Podcast ›Trends of order and chaos‹.

Die kasachischen Behörden sind sehr bemüht, ihr Gesicht zu wahren und ihre Version der Realität zu konstruieren. Die Strafaktion wird als ›Terrorismusbekämpfung‹ bezeichnet, als ob ein ›Terrorist‹ jede Person wäre, die sich den Behörden mit Gewalt widersetzt. Aufständische Menschen sind »Militante und Banditen, sie müssen getötet werden«, und der Grund für den Aufstand sind angeblich »freie Medien und ausländische Persönlichkeiten«, was Tokajew wörtlich sagte. Wir erleben die Entwicklung der militanten Propaganda praktisch live auf Sendung. Die Lüge, schwarz sei weiß und Krieg sei Frieden, wird bis zur Rührseligkeit verbreitet, und wer sie nicht glaubt, wird an die Wand gestellt. Schließlich hat niemand Mitleid mit den ›Terroristen‹, das ist ein Mantra, das die postsowjetischen Diktatoren gut gelernt haben.

Von Beginn der Kämpfe an stellten sowohl kasachische als auch ausländische Medien Behauptungen über die Identität der Demonstrant*innen auf. Die Beschreibungen reichten von »Demonstranten«, »aggressiven Jugendlichen« und »Marodeuren« bis hin zu »nationalistischen Banden«, »20.000 Banditen, die Almaty angreifen« und »islamischen Terroristen«. Es stimmt, dass eine Vielzahl von Gruppierungen an dem Aufstand beteiligt war – eine ganze Gesellschaft war dort vertreten, mit all ihren Unterschieden und Widersprüchen. Es ist davon auszugehen, dass verschiedene Personen an verschiedenen Aktionen gegen das Regime teilgenommen haben, einschließlich an den Kämpfen und Plünderungen.

Von Anarchist Fighter:

»Der Journalist Maksim Kurnikov sagte in der Morgensendung von Echo Moskwy, dass der Plan, ›Waffen aus Waffenlagern zu nehmen und dann Sicherheitskräfte anzugreifen‹, in Kasachstan nicht neu sei. Genau dasselbe geschah im Juni 2016 in der Stadt Aktobe: Mehrere Dutzend junge Männer erbeuteten Waffen aus zwei Waffenläden, beschlagnahmten Fahrzeuge und griffen damit die Nationalgarde an, von der sie besiegt wurden. Die kasachischen Behörden haben sich in diesem Fall sehr verwirrt gezeigt: Es ist immer noch nicht ganz klar, worauf sich ihre Behauptungen über eine ›islamistische Verbindung‹ stützen.

Kurnikov sprach auch von paramilitärischen Wachmannschaften bei illegalen Ölraffinerien in Westkasachstan, die sich aus Dorfbewohnern zusammensetzen, die von den kasachischen Städter*innen abschätzig ›Mambets‹ (Kolchosebauern) genannt werden. Diese Gruppen hätten sich gelegentlich auch bewaffnete Auseinandersetzungen mit Polizeibeamten geliefert.

Was sagt uns das alles? Selbstverständlich sind die Worte von Präsident Tokajew über »im Ausland sorgfältig ausgebildete Terrorgruppen« reine Propaganda und höchstwahrscheinlich eine grobe Lüge. Dass bewaffnete Zellen, die in der Lage sind, Sicherheitseinrichtungen und Waffenlager in ihre Gewalt zu bringen, plötzlich aus einer bunt zusammengewürfelten Gruppe hervorgegangen sind, ist ebenfalls unwahrscheinlich. Abgesehen davon haben wir keine Beweise für eine islamistische oder nationalistische Beteiligung an den Ereignissen in Almaty. Es gibt in der kasachischen Gesellschaft grundsätzlich allerdings organisierte Gruppen, die zu aktivem bewaffneten Widerstand fähig sind. Es ist wahrscheinlich, dass es sich bei den Personen, die sich auf eine direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften einließen, zum Teil um Angehörige solcher Gruppen und zum Teil um spontane, selbst organisierte Demonstrant*innen handelte. Es besteht eine Analogie zum Maidan 2014 [zum Beispiel in Kiew], wo die Verteidigung sowohl spontan von der Menge als auch unter Beteiligung radikaler Gruppen, die sich anschlossen, organisiert wurde.

Die Behauptungen über die Beteiligung islamischer Fundamentalisten an den Ereignissen mögen in gewissem Maße zutreffen. Sicher ist aber auch, dass die Behörden alle Informationen über sie nutzen werden, um alle anderen am Aufstand beteiligten Gruppen, Identitäten und Teilnehmer*innen zu diskreditieren. Wirtschaftliche Verzweiflung und soziale und politische Verfolgung treiben die Menschen oft zum Fundamentalismus und zu anderen radikalen Formen.

Laut Anarchist Fighter:

»Die Frage nach dem tatsächlichen Kräfteverhältnis zwischen den nichtstaatlichen Akteur*innen der Ereignisse ist nach wie vor dringend:

Der Oppositionsjournalist Lukpan Akhmedyarov äußerte sich im Radiosender Echo Moskwy überzeugt, dass der bewaffnete Angriff auf die Behörden in Almaty das Werk von Nasarbajews Leuten war. Die Argumente für seine Überzeugung sind nicht klar.

Es ist bemerkenswert, dass Achmedjarow in seiner Heimatstadt Uralsk auf dem Platz neben den Demonstrant*innen eine Gruppe von mehreren Dutzend organisierten Personen bemerkte, die zu einem Angriff auf das Akimat aufriefen. Auch aus Kostanai wurde eine kleine Gruppe “identisch gekleideter Aufwiegler” gemeldet.

Worum handelt es sich? Eine schattenhafte organisierte Rebellentruppe, kriminelle Gruppen oder tatsächlich Provokateure aus staatlichen Diensten? Oder handelt es sich vielleicht um ein ›gewaltfreies‹ Narrativ, welches darauf abzielt, die Befürworter*innen direkter Aktionen sofort als solche zu bezeichnen? Es gibt keine Antworten.

Eines ist klar: Die Einteilung der Demonstrant*innen in ›friedliche‹ und ›Terroristen‹ ist eine Verzerrung der Realität. Schon vor den Ereignissen in Almaty gab es Clips aus demselben Uralsk, wo die Demonstrant*innen mutig die Festgenommenen von der Polizei befreiten.

Erlauben wir uns eine Binsenweisheit: Ja, ein radikaler ›gewalttätiger‹ Protest ist keineswegs eine Erfolgsgarantie, und er ist auch nicht immun gegen Provokationen. Aber ein rein ›gewaltfreier‹ Protest ist in unserer autoritären Realität einfach von vornherein zum Scheitern verurteilt. »Ihr seid angehört worden, wir werden das regeln, und die Gewalttätigsten unter euch werden wir ins Gefängnis stecken« - das ist immer die Antwort der Machthaber in Russland, Belarus, Kasachstan…

Die Gerüchte über Konflikte innerhalb des Machtblocks in Kasachstan und die Spekulationen über geopolitische Pläne, die beim Aufstand im Spiel sind, könnten alle wahr sein. Aber diese Gerüchte und Spekulationen in den Mittelpunkt der Erzählung über die Geschehnisse zu stellen, ist eine Entscheidung, die den zahllosen alltäglichen Menschen, die aus ihren eigenen Gründen am Aufstand teilgenommen haben, ihre Handlungsfähigkeit abspricht. Wie alle Verschwörungsmythen geht auch diese davon aus, dass die einzigen Menschen, die etwas in so einer Situation zu sagen haben, schattenhafte globale Mächte sind. Solche Erzählungen dienen dazu, sowohl die Ereignisse zu beeinflussen – und die Art und Weise, wie andere sich mit ihnen auseinandersetzen. Wenn diese Verschwörungsmythen die Teilnehmer*innen des Aufstands so sehr in Zweifel ziehen, dass sie Menschen davon abhalten, die Demonstrant*innen zu unterstützen, die sich gegen wirtschaftliche Ausbeutung und politische Herrschaft zur Wehr setzen, dann haben sie ihr Ziel erreicht.

Ein Thron nach der Plünderung der Präsidentenresidenz in Almaty.


Tokajew selbst hat nicht gezögert, die haarsträubendsten Geschichten zu verbreiten und behauptet, dass die internationalen Terroristen, die den Aufstand angeblich angeführt haben, nicht identifiziert werden können, weil ihre Leichen aus den Leichenhallen gestohlen wurden. Laut Anarchist Fighter:

stellt es sich heraus, dass die Terroristen der Öffentlichkeit nicht gezeigt werden können, selbst wenn sie tot sind. Ihre Mitstreiter haben die Toten direkt aus den Leichenhallen entführt!

Und das Wichtigste ist, dass die kasachischen Behörden ohne Scham offen erklären, dass sich radikale Demonstrant*innen als Polizisten und Soldaten verkleidet haben (!!!), so dass jede Gräueltat der Staatsorgane den Revolutionär*innen selbst zugeschrieben werden kann. Vielleicht wurden die Demonstrant*innen von den ›Verkleideten‹ erschossen? Und wenn sich nun herausstellt, dass die Kinder und Journalist*innen von Männern in Uniform und mit Schulterriemen erschossen wurden - dann wissen sie schon: Natürlich waren es die verkleideten ›Randalierer‹ und nicht die brutalen Henker der Tokajew-Spezialkräfte.

Abgesehen von der Frage, wer an dem Aufstand beteiligt war, ist es wichtig zu fragen, wer von seiner Niederschlagung profitiert. Wie es in einem Kommentar heißt:

Putin ist kein Nationalist, sondern ein Garantiegeber. Er garantiert die Sicherheit der postsowjetischen Elite und die Sicherheit ihres Eigentums. Früher garantierte er dies nur in der Russischen Föderation, aber jetzt scheint er es auch in Kasachstan zu garantieren. Schließlich gibt es auch dort russisches Kapital.

Schauen wir uns die Forbes-Liste von Kasachstan an. Dort sind die wahren Nutznießer der friedenserhaltenden Maßnahmen aufgeführt. Die Liste ist im Übrigen interessant international. Die ersten beiden Zeilen sind von den kasachischen Koreanern von Kim besetzt. Der erste ist Hauptaktionär von KAZ Minerals, einer ›britischen Kupfergesellschaft‹, wie Wikipedia sie beschreibt. Im Jahr 2021 ist sein Vermögen um 600 Millionen Dollar gestiegen. Der zweite Kim ist zusammen mit Baring Vostok Eigentümer einer der wichtigsten kasachischen Banken, der Kaspi Bank, die ebenfalls in London gehandelt wird und trotz der Pandemie ein beeindruckendes Wachstum verzeichnet hat. An dritter Stelle steht überraschenderweise der georgische Staatsbürger Lomatdze, der ebenfalls Miteigentümer der Kaspi Bank und deren Manager ist.

Dann kommt ein gewisser Bulat Utemuratow, der sich in der Regierung Nasarbajew in den 90er Jahren auf den Außenhandel spezialisiert hatte. Ihm gehört die ForteBank, deren Nettogewinn im Jahr 2020 »53,2 Milliarden Tenge” (121 Millionen Dollar) betrug, sowie die wichtigsten Anteile an den großen Mobilfunkbetreibern, 65 % des Goldminenunternehmens RG Gold und eine Reihe anderer Vermögenswerte, darunter ein Burger-King-Franchise und Ritz-Carlton-Hotels in Nur-Sultan, Wien und Moskau« …

Den fünften und sechsten Platz teilen sich die Tochter und der Schwiegersohn von Nasarbajew. Sein Schwiegersohn, Timur Kulibajew, besitzt »die Mehrheitsbeteiligung an der Steppe Capital Pte Ltd. in Singapur«, der die ›niederländische‹ KazStroyService Infrastructure BV und Asset Minerals Holdings (Caspi Neft JSC, 50 % von Kazazot JSC) gehören.

Dinara Kulibajewa, die Tochter von Nasarbajew, ist zusammen mit ihrem Mann Eigentümerin der kasachischen Halyk Bank, deren »Marktkapitalisierung 3,1 Milliarden Pfund (4,3 Milliarden Dollar) erreicht hat«. An siebter Stelle steht ein russischer Finanzspekulant und Gründer der ›amerikanischen Investmentgesellschaft‹ Freedom Holding Corp. Timur Turlov. »Laut Jahresabschluss des Unternehmens verdreifachte sich das Vermögen im Jahr 2020 auf 1,47 Milliarden Dollar (453,5 Millionen Dollar im Jahr 2019), das Eigenkapital verdoppelte sich fast auf 225,5 Millionen Dollar (131,3 Millionen Dollar), der Nettogewinn verzehnfachte sich auf 42,3 Millionen Dollar (4 Millionen Dollar).«

… und so geht es weiter.

Auf der anderen Seite der Barrikaden stehen all jene, die entweder für 300 Dollar im Monat (so ungefähr wird der Durchschnittslohn in Kasachstan geschätzt) für all diese Bonzen arbeiten, indem sie Mineralien für ›britische‹ und ›singapurische‹ Unternehmen abbauen oder ihre Mitbürger*innen im Dienstleistungssektor bedienen, der ebenfalls zu all diesen Unternehmen gehört; oder diejenigen, die überhaupt keine Arbeit in großen und mittelständischen Unternehmen gefunden haben, deren Verdienst nur geschätzt werden kann (es wird angenommen, dass er noch niedriger ist). Die Arbeiter*innen, die sich um die Unternehmen scharen, fordern soziale Garantien (niedrigere Versorgungspreise, kostenlose medizinische Versorgung, höhere Löhne usw.). Diejenigen, die noch nicht einmal Arbeiter*innen sind, versuchen einfach, ihr Einkommen direkt von Einzelhandelsketten und Banken durch eingeschlagene Fensterscheiben und geplünderte Geschäfte zu bekommen.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Arbeiter*innen mit Sicherheit entlassen werden, sobald die Unruhen nachlassen, kann ihr Vorgehen nicht als irrational oder ungerecht bezeichnet werden.

Das Stadtzentrum von Almaty am 5. Januar; ein Foto von Zhanabergen Talgat.


Ein Frühling, der sich seit dreißig Jahren verzögert hat

Noch einmal zum avtonom.org-Podcast ›Trends of order and chaos‹:

»Die kasachischen Behörden und Präsident Tokajew hatten von vornherein kein Vertrauen in ihre eigenen Polizei- und Regierungsstrukturen. Die Polizei und die Armee hatten bereits begonnen, sich auf die Seite der Rebell*innen zu schlagen, und es war offensichtlich, dass diverse Ausgänge möglich waren. Unter diesen Umständen entschied sich Tokajew für den letzten Ausweg: die Entsendung von Strafeinheiten aus den Nachbarländern. Das war politischer Selbstmord: Er gab zu, dass er sich im Krieg mit seiner eigenen Bevölkerung und sogar mit seinem eigenen Staatsapparat befand.«

Die Situation in Kasachstan ist sehr schnell eskaliert - nicht nur durch die Proteste, sondern auch durch die Brutalität, mit der sie unterdrückt wurden. Die Kämpfe auf den Straßen sind eine Folge der Art und Weise, wie die Geduld der Menschen in Kasachstan seit Jahrzehnten auf die Probe gestellt worden ist. Die kasachische Gesellschaft hat schon früher Kämpfe und Schießereien auf der Straße erlebt - 1986, als die Regierung von Michail Gorbatschow einen Aufstand in Almaty niederschlug und ein Massaker anrichtete2 und 2011, als die Polizei auf streikende Arbeiter in Zhanaozen schoss und Dutzende tötete.

Als die ersten Nachrichten über eine militärische Intervention im Land auftauchten, schien dies keinen großen Rückschlag für den Aufstand zu bedeuten. Die Kämpfe hörten nicht auf - im Gegenteil, sie nahmen zu. Wir sahen Videos von entwaffneten Soldaten in der Menschenmenge, die begrüßt wurden, weil sie die Seiten gewechselt hatten.

Dann wurde das Internet abgeschaltet. Der offizielle Grund für die Internetsperre war, »die Terroristen aus verschiedenen Ländern, die in Almaty kämpfen, daran zu hindern, sich mit ihrem Hauptquartier zu koordinieren«. Dies führte zu einem entscheidenden Mangel an Informationen aus den Orten, an denen der Aufstand stattfand, was es leichter machte, die Ereignisse falsch darzustellen. In einer Zeit, in der alles gefilmt, fotografiert, hochgeladen und geteilt wird, dient das Abschneiden eines sozialen Aufstands von den Kommunikationsmitteln dazu, ihn aus der Realität auszulöschen und einen Raum zu schaffen, in dem Unwahrheiten gedeihen können.

Riot-Cops, die die Kämpfe in Kasachstan von ihrem Beobachtungsposten aus filmen. Der Krieg um Informationen findet immer auf einem ungleichen Schlachtfeld statt.

Eines der wichtigsten Ereignisse fand jedoch im Verborgenen statt: die Intervention der OVKS. Dies machte gleich mehrere Widersprüche deutlich. Offiziell als »friedenserhaltende Hilfe der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS)« bezeichnet, umfasst sie ein Kontingent von bis zu 200 Hundert Soldaten aus Armenien und Tadschikistan, 500 aus Belarus von Diktator Lukaschenko (der vor kurzem einen eigenen Aufstand niedergeschlagen hat), eine nicht näher bezeichnete Anzahl kirgisischer Soldaten und 3000 Soldaten aus Russland. Es ist bezeichnend, dass die russischen Fallschirmjäger, die nach Kasachstan verlegt wurden, von Anatoliy Serdyukov kommandiert werden, der Erfahrungen mit den Kriegen in Tschetschenien, der Annexion der Krim und dem Krieg in Syrien hat. Hier können wir die imperialen Aktivitäten Russlands in vollem Umfang sehen.

In Kasachstan versucht das Regime, mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben, und lädt sogar benachbarte Diktaturen zum Einmarsch ein. Für die Menschen in Kasachstan dürfte dies den endgültigen Verlust jeglicher Legitimität bedeuten, die Tokajew in ihren Augen gehabt haben könnte. Jeder in der Region kann sehen, dass die OVKS die Einheit ihrer Regierungen gegen ihre Bevölkerung darstellt.

laut avtonom.org:

Ein Präsident, der die Menschen in seinem eigenen Land als ›terroristische Banden‹ bezeichnet, stellt selbst für die Standards postsowjetischer autoritärer ›Republiken‹ einen Tiefpunkt dar.

In Wirklichkeit handelt es sich um eine gewaltsame Invasion eines anderen Landes auf der Seite der Behörden, die das Vertrauen der Bevölkerung verloren haben. Es würde die endlose Wiederholung des Szenarios »Das Gefängnis der Nationen« bedeuten und wäre gleichzusetzen mit der Niederschlagung der ungarischen Revolutionen 1848 und 1956, mit Panzern in den Straßen von Prag 1968 und mit der Invasion in Afghanistan 1979.

Die ausgebrannte Hülle eines Militärfahrzeugs in Almaty, fotografiert am 7. Januar. Keine Regierung ist unbesiegbar, nicht einmal das mächtigste Imperium.

Von Zhanaozen nach Almaty: Das Gedenken an die Toten

Von Anarchist Fighter:

»Der aktuelle Aufstand in Kasachstan begann mit den Protesten in Zhanaozen. Dieselbe Stadt, in der die Behörden im Dezember 2011 auf streikende Ölarbeiter*innen schossen. Die Tragödie in Zhanaozen hat die Protestkultur in Kasachstan geprägt. Die Menschen haben das Andenken an die Toten hochgehalten. Die Pflicht der Lebenden ist es, die Arbeit der Gefallenen fortzusetzen.

Und im Januar 2022 stand Zhanaozen wieder auf. Die erste Stadt des Landes, ein Beispiel für alle anderen. Der formale Grund für die Proteste war die Erhöhung der Gaspreise und der steigenden Lebensmittelpreise. Aber, wie Michail Bakunin feststellte, reicht die bloße Unzufriedenheit mit der materiellen Situation für eine Revolution nicht aus, es bedarf einer mobilisierenden Idee. In Kasachstan war eine solche Idee die Loyalität zu den Kämpfer*innen, die 2011 starben. Die Arbeiter*innen, die damals unter den Kugeln starben, werden die Welt, von der sie träumten, nie sehen, aber der Tod um eines Traums willen wurde zu einem Auftrag für die Lebenden, ihre Sache weiterzuführen. Und so gibt es für die Rebell*innen in Kasachstan jetzt keinen Weg mehr zurück.

Von der rebellischen Kultur Kasachstans können wir viel lernen. Auch wir müssen das Andenken an die Märtyrer*innen der Befreiungsbewegung in Russland und Belarus bewahren. An Michael Zhlobitsky, Andrey Zeltzer, Roman Bondarenko und andere Held*innen. Sie starben, um uns mutiger und stärker zu machen, und wir sind ihnen zu Dank verpflichtet. Wir müssen erzählen, wie sie gelebt haben und wofür sie ihr Leben gegeben haben. Wie die Ereignisse in Kasachstan zeigen, sind gefallene Märtyrer*innen in der Lage, die Menschen zum Aufstand zu bewegen.«

Die Trümmer der Revolte: Almaty nach dem Aufstand.

Wie haben Augenzeuginnen in Almaty den Aufstand erlebt?

Um mehr über die Ereignisse in Kasachstan zu erfahren, haben wir uns an zwei Anarcha-Feministinnen aus Almaty gewandt, die einige Situationen des Aufstands miterlebt haben. Sie waren nicht bei den Zusammenstößen dabei, aber beteiligen sich seit Jahren an den feministischen Aktivitäten in der Stadt3. Sie vertreten, nach allem, was wir finden konnten, am ehesten einen »neutralen« Standpunkt zu den Ereignissen.

Anarchistische Feministinnen in Almaty am Internationalen Frauentag, 8. März 2021.

Stellt euch und die Situation, aus der ihr sprecht, bitte kurz vor.

Wir sind zwei Anarchistinnen aus Kasachstan. Wir haben in den letzten elf Jahren an vielen linken Anarcha-Fem-Öko-, Tierbefreiungs- und Vegan-Aktivitäten in Almaty teilgenommen, aber im Moment sind wir nicht so aktiv.

Mir ist keine anarchistische Bewegung in Kasachstan im 21. Jahrhundert bekannt. In den 1990ern gab es einige Aktivitäten im Untergrund, aber aktuell gibt es nichts dergleichen. Ich habe früher an einer linken marxistischen Gruppe teilgenommen: Treffen, ein Lesekreis, einige öffentliche Vorträge. Ich weiß nicht, was die Ex-Mitglieder jetzt machen. Ich höre nichts von irgendwelchen »linken« Gruppen hier.

Ich war eine der Organisatorinnen einer der ersten feministischen Bewegungen in Kasachstan – Kazfem. Wir haben öffentliche Aktionen und Performances, zum Beispiel zum 8. März [Internationaler feministischer Kampfag], organisiert und die feministische Zeitschrift Yudolʼ herausgegeben.

Es gibt hier eine liberale Jugendbewegung namens Oyan Kazakhstan (»Wach auf, Kasachstan«), die jetzt aktiv ist. Sie organisiert Versammlungen, Performances und Demos und wird oft von der Polizei schikaniert. Sie entstand nach der Banneraktion, die Beibarys Tolymbekov und Asya Tulesova beim Stadtmarathon 2019 durchführten. Sie hatten entlang der Marathonstrecke in Almaty ein Transparent mit der Aufschrift »Du kannst nicht vor der Wahrheit davonlaufen« aufgehängt – ein Kommentar zu den Präsidentschaftswahlen – und wurden dafür 15 Tage ins Gefängnis gesteckt, was vor allem in den sozialen Medien große Aufmerksamkeit auslöste. Es gibt einen Verschwörungsmythos dass all diese Aktivist*innen auf der Seite der Regierung sind, weil niemand mehr im Gefängnis sitzt, aber ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich kenne viele von ihnen persönlich. Sie unterstützen auch feministische und LGBTQ-Aktivitäten. Von der Gegenseite - vor allem die Hater im Internet und in einigen staatlichen Medien - wird behauptet, dass dies alles das Werk ›des Westens‹ (Europa und der Vereinigten Staaten) sei.

Kasachstan ist ein autoritäres Land. Wir hatten 28 Jahre lang denselben Präsidenten [Nursultan Nasarbajew], und der neue [Kassym-Jomart Tokajew] ist nur eine Marionette. Aber als der erste Präsident aufhörte, begannen die Menschen, über Veränderungen nachzudenken. Der Personenkult um Nursultan Nasarbajew ist auch nach seinem Rücktritt nicht verschwunden. Die Hauptstadt Astana wurde in ›Nursultan‹ umbenannt, was viele Proteste auslöste. In den letzten Jahren hat sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert, insbesondere nach der Pandemie, der sehr hohen Inflation, der Korruption usw. Außerdem wurde Land in großem Umfang an China und andere Länder verkauft und verpachtet.

Vor zehn oder sogar fünf Jahren waren mehr Menschen dem Präsidenten gegenüber loyal. Damals gab es die Hoffnung, dass Kasachstan sich »entwickeln« würde, dass es bald besser werden würde. Selbst bei den Ereignissen in Zhanaozen im Jahr 2011, als protestierende Arbeiter*innen erschossen wurden, gab es nur sehr wenig Unterstützung aus Almaty. Viele Menschen waren der Meinung, dass das, was dort geschah, richtig war. Wenn es früher Proteste gab, wurden sie von der älteren Generation, von Arbeiter*innen und Menschen aus den Regionen, den Auls (Dörfern), organisiert und unterstützt, in der Regel angeführt vom zwielichtigen Oppositionsführer Muchtar Obljasow. Doch in den letzten drei Jahren sind junge Menschen aus der städtischen Mittelschicht zu politischen Aktivist*innen geworden. Übrigens glaube ich, dass die ökologischen Probleme in Almaty – die Umweltverschmutzung ist extrem und wird von Jahr zu Jahr schlimmer – neben den sozialen Medien der Hauptgrund für die Jugendproteste hier sind.

Stadtzentrum von Almaty, 5. Januar.

Erzählt uns, was ihr in der ersten Januarwoche in Almaty erlebt habt.

Kurz nach Neujahr erreichten uns Nachrichten über einen Arbeiteraufstand in Zhanaozen. Der Protest war friedlich, aber die Forderungen waren ziemlich radikal – von niedrigeren Gaspreisen bis zum Rücktritt der Regierung. Auch in anderen Städten begannen Proteste. Es wurde bekannt, dass es am 4. Januar Solidaritätsaktionen in Almaty geben würde, aber ich hatte keine genauen Informationen. Auf dem Heimweg erfuhr ich von Protesten in verschiedenen Teilen der Stadt und von der Verhaftung von Aktivist*innen durch Oyan Kazakhstan [von der bereits erwähnten liberalen Jugendbewegung]. Ich wohne etwas außerhalb der Stadt, in den Bergen, und schon zu Hause wurde mir klar, dass etwas Ernstes im Gange war. Am Abend gingen alle Internetverbindungen offline. Ich wusste nicht, wohin ich gehen und ob ich zurückkommen konnte.

Mein Genosse Daniyar Moldabekov, ein politischer Journalist, schrieb über die Geschehnisse in der Stadt während dieser Zeit:

Als sich die Demonstrant*innen dem Platz näherten, begann die Polizei, Blendgranaten und Tränengas zu werfen. Ich und Tausende andere bekamen kaum Luft, unsere Augen und Gesichter brannten, uns war übel, wir husteten unaufhörlich. Es ist ein Wunder, dass ich nicht ohnmächtig wurde. Zwischen 23.00 Uhr und 4.00 Uhr morgens, als meine Kolleg*innen mich nach Hause bringen mussten, müssen sie mehr als hundert Blendgranaten abgefeuert haben. Ich konnte die Explosionen noch von meiner Wohnung aus hören.

Etwa eine Stunde, nachdem die Menge den Platz der Republik erreicht hatte, ging sie hinunter zur Abai-Straße. Dort sahen sie sich einem gepanzerten Mannschaftswagen gegenüber, der in ihre Richtung kam. Ein Lastwagen fuhr mit Bürger*innen vorbei, die kasachische Fahnen schwenkten. Einige von ihnen hielten Schilde, die sie offenbar der Bereitschaftspolizei entrissen hatten.

Die ganze Nacht über hörte man von Explosionen. Ich weigerte mich erst, das zu glauben. Ich rief einen halben Tag lang alle an, hörte von Opfern. Das Akimat (Rathaus) wurde besetzt. Alle versuchten, uns zu überreden, zu Hause zu bleiben. In der Annahme, dass die Proteste einen nationalistischen Charakter haben könnten, begannen einige Leute, Angst zu bekommen (ich bin Russin in Kasachstan). Es gab keine Informationen darüber, wer sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Platz oder in der Stadt aufhielt. Meine Freundin und ich beschlossen, uns selbst ein Bild zu machen.

Stadtzentrum von Almaty am 5. Januar.

Die Stadt war halb leer. Autos mit kasachischen Fahnen fuhren durch die Straßen, fröhliches Rufen, alles war geschlossen. An den Türen hingen Schilder mit der Aufschrift »Wir sind bei den Menschen«. Eine Atmosphäre der Aufregung. Als wir uns dem Platz näherten, sahen wir Gruppen junger Männer, manche hatten Stöcke in der Hand. Ich sah einen Schulterriemen der Polizei auf der Straße liegen. Es war ein bisschen unheimlich, aber niemand war aggressiv. Am Denkmal für die Ereignisse von 1986, dem Aufstand gegen das Sowjetregime, trafen wir auf Demonstrierende mit Polizeischilden. Es war kein einziger Polizist oder Soldat zu sehen.

Stadtzentrum von Almaty am 5. Januar. Auf dem Schild an der Tür steht »Wir sind bei den Menschen«.

Dann sahen wir das Akimat brennen. Wir trauten unseren Augen nicht. Jemand schlug die Türen des Gebäudes gegenüber des Akimat ein. Dort befinden sich Fernsehsender und andere staatliche Einrichtungen. Wieder kamen Männer auf uns zu: »Warum seid ihr hier?« (Sie meinten: Warum seid ihr gekommen, wo ihr doch russisch seid?) »Das ist meine Stadt und mein Land und auch Ihres«, antwortete ich. Sie begrüßten uns freundlich.

Wir boten den Demonstrierenden heißen Tee an. Ein Mann erzählte uns, dass er von Anfang an bei den Protesten dabei war, dass alles friedlich begann, bis die Behörden anfingen, Blendgranaten zu zünden und Gewalt anzuwenden. Lediglich in der Nähe des Akimat-Gebäudes blieben Sicherheitskräfte. Er und andere Männer dort hatten gesehen, wie Menschen in den Kopf geschossen wurde. Sie riefen Taxis, um sie ins Krankenhaus zu bringen. Er erzählte uns, dass sie planten, den Flughafen zu besetzen, damit das russische Militär dort nicht landen könne. Viele hochrangige Regierungs- und Geschäftsleute hatten das Land bereits mit Privatflügen verlassen.

Keiner der Menschen, die wir auf dem Platz sahen, wirkte wie ein »Marodeure« [sic]. Sie wollten den Rücktritt der Regierung. Niemand hatte den Befehl dazu erteilt. Dies war ein landesweiter Arbeiter*innenaufstand. Niemand hatte Angst zu sterben, aber wir sahen auch keine Wut. Sie zeigten uns Verletzungen durch Gummigeschosse und warnten uns, dass es bald zu Schießereien kommen würde und dass es besser wäre, wenn wir gehen würden. Geräusche von Explosionen und Schüssen kam immer näher, also gingen wir. Ein Mann nahm uns in seinem Auto mit. An diesen Tagen zeigten sich die Menschen untereinander sehr solidarisch.

Meine Freund*innen und ich beschlossen, zusammen in meinem Haus außerhalb des Stadtzentrums zu bleiben. Wir waren alle aufgeregt. Um Mitternacht, zwischen dem 5. und 6. Januar, wurden alle Internetverbindungen gekappt. Vier Tage waren wir isoliert; wir konnten nur noch telefonieren, und auch das funktionierte nicht gut. In dieser Nacht verließen alle öffentlichen Dienste die Stadt, einschließlich der Feuerwehr und der medizinischen Versorgungsdienste. Freiwillige löschten die Brände. Außerdem versuchten einige Demonstrierende, »Räuber« zu stoppen.4

Am 7. Januar funktionierten einige Geschäfte und Geldautomaten fernab des Stadtzentrums noch. In diesem Teil der Stadt war größtenteils alles ruhig und aufgeräumt, mit Ausnahme der ausgebrannten Regierungsgebäude. Am Vortag war es möglich gewesen, in die Gebäude zu gelangen, sie wurden nicht bewacht. Diesmal machten wir ein paar Fotos, dann war in der Nähe ein Schuss zu hören, und wir verließen den Ort.

Am Abend des 9. Januar war es möglich, über Proxy-Dienste eine Internetverbindung herzustellen. Eine mobile Verbindung war immer noch nicht verfügbar. Am Morgen des 10. Januar funktionierte die Verbindung überall, allerdings nur bis 13 Uhr und dann von 17:30 bis 19:30 Uhr.

Stadtzentrum von Almaty am 5. Januar.

Außerhalb Kasachstans wurde viel darüber geredet, wer ›hinter‹ den Protesten steckt. Sind diese Anschuldigungen überhaupt glaubwürdig? Wir haben auch einige Nachrichtenberichte gesehen, in denen behauptet wird, dass Zusammenstöße zwischen rivalisierenden Fraktionen innerhalb der Machtstruktur ebenfalls zu der Situation beitragen. Inwieweit glaubt ihr, dass der islamistische Fundamentalismus in diese Ereignisse verwickelt ist?

Präsident Tokajew regiert immer noch, trotz der Gerüchte über seinen Rücktritt. Jetzt verbreiten die staatlichen Fernsehsender und Medien so viele Desinformationen und Propaganda. Es ist noch sehr früh, um Schlussfolgerungen zu ziehen, aber einige Dinge sind klar.

Alles begann mit einem populärem Aufstand. Ja, sie haben Akimat verbrannt, aber niemand hat sie angeführt. Sie wollten nur das alte Regime loswerden. Sie waren keine ›Kriminellen‹ [sic].

Nachdem es losging, tauchten einige andere Kräfte auf. Wir wissen nicht, wer sie waren. Aber es stimmt, dass sie organisiert waren. Aber von wem? Jetzt gibt es viele Gerüchte. In einigen offiziellen Medien heißt es, sie kämen aus [dem benachbarten] Kirgisistan, wo es seit der Unabhängigkeit mehrere Revolutionen gegeben hat [wie Kasachstan wurde Kirgisistan nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 unabhängig]. Diese Medien verbreiten auch Berichte über die Taliban oder Dschihadisten. Leute, die ich persönlich kenne, sagten, sie hätten auf der Straße Leute gesehen, die ›wie die aussahen‹ [sic].

Hier in Kasachstan habe ich noch kein Gespräch über die CIA [die Central Intelligence Agency der US-Regierung] gehört. Ich denke, das ist russische Propaganda.

Der ehemalige Berater des Präsidenten hat Behauptungen über eine Verschwörung innerhalb der Regierungsstrukturen aufgestellt und behauptet, dass es mehrere Jahre lang ›Ausbildungslager‹ in den Bergen gab und das Nationale Sicherheitskomitee diese Informationen verheimlicht hat. Er behauptete: »Ich habe exklusive Informationen, dass zum Beispiel 40 Minuten vor dem Angriff auf den Flughafen der Befehl erteilt wurde, die Absperrung und die Wachen vollständig zu entfernen.«

Almaty, 7. Januar.

Was wisst ihr über die innere Dynamik des Aufstands?

Jeder außerhalb Kasachstans versucht zu analysieren, was vor sich geht. Ich denke, dass selbst wir, die Einwohner*innen des Landes, noch lange nicht verstehen werden, was genau passiert ist. Abgesehen davon, dass es jetzt keine stabile Internetverbindung gibt, werden alle Nachrichtensender stark zensiert, und es wird noch schlimmer werden.

Ich werde nicht auf jene Theorien eingehen – aber es kursieren welche über verschiedene Machtkämpfe zwischen dem Nasarbajew-Clan und anderen Machtsuchenden: zum Beispiel gibt es eine Theorie, dass Tokajew mit Hilfe des russischen Militärs seine Machtposition sichert.

Das Erschreckende daran ist, dass Zehntausende beteiligt waren und ihre guten Absichten, die sozialen und politischen Verhältnisse zum Wohle aller zu verändern, nun von einigen wenigen dazu benutzt werden, die Ressourcen des Landes neu unter sich aufzuteilen. Ja, alles begann mit den wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiter*innen in Westkasachstan, die gegen den starken Anstieg der Gaspreise protestierten. Dann wurden die Forderungen politisch: Rücktritt der Regierung und des Präsidenten, Wahl von Akims (Bürgermeistern) und eine parlamentarische Republik. Einige der Forderungen wurden erfüllt, aber nicht sofort, und als sie ignoriert wurden, breitete sich eine Welle des Protests und der Solidarität in allen Städten Kasachstans aus, so dass es von außen wie ein großer revolutionärer Ausbruch aussah, den es in unserem Land in dreißig Jahren autoritären Regimes nicht gegeben hat.

Wir können jetzt nichts mit Sicherheit sagen, außer einer Sache: Dieser Protest hatte keinen öffentlichen Anführer*innen, und die Straßenunruhen und Besetzungen von Verwaltungsgebäuden hatten keine klaren Forderungen. Aber es gab Morde und viele Opfer in der Bevölkerung, erst in den Kämpfen mit der Polizei, dann, als die Polizei abgezogen war, untereinander auf den Straßen und schließlich durch die Erschießung von Zivilist*innen durch die Streitkräfte Kasachstans und der OVKS.

Die Massenmedien, die weiter arbeiten durften, begannen, über Radikale und Islamisten zu berichten und dabei das Bild des Feindes von außen zu zeichnen. Davor, in den ersten Tagen der Proteste, gab es einen Diskurs, in dem zu einem »friedlichen Dialog mit den Demonstranten« aufgerufen wurde – und einen Tag später gab es bereits den Schießbefehl. Nach dem Einmarsch der OVKS-Truppen und zwei Tagen ständiger Schießereien auf den Straßen setzte Tokajew die Demonstrantinnen mit Terroristen gleich, ebenso Aktivisten und Menschenrechtlerinnen, und unabhängige Medien wurden zu einer Bedrohung für die Stabilität erklärt. Im Zuge dieser Feindbildsuche ändert sich der staatliche Diskurs ständig: Gestern waren es angeblich Arbeitslose aus Kirgisistan, denen Geld geboten wurde, heute sind es Radikale aus Afghanistan. Wir alle hoffen, dass es morgen nicht die Aktivist*innen sein werden, die sich in den letzten drei Jahren für politische Reformen in Kasachstan eingesetzt haben und zu Kundgebungen erschienen sind.

Das Stadtzentrum von Almaty am 5. Januar.

Was könnt ihr uns über die Repressionen sagen?

Der kirgisische Musiker Vicram Ruzakhunov wurde von den kasachischen Behörden als ›Terrorist‹ verhaftet, gefoltert und gezwungen, ein Video aufzunehmen und zu ›gestehen‹. Jetzt ist er wieder frei. Der unabhängige Lokaljournalist Lukpan Akhmediyarov wurde verhaftet. Ein anderer unabhängiger Journalist, Makhambet Abjan, teilte mit, dass am 5. Januar die Polizei in seiner Wohnung war; nun wird er vermisst. Meine Freund*innen und viele andere Menschen berichten, dass auch ihre Verwandten und Freund*innen vermisst werden. Die Behörden haben bereits den Tod hunderter Menschen bestätigt, darunter zweier Kinder. Gewerkschafter*innen werden vermisst, darunter Kuspan Kosshigulov, Takhir Erdanov und Amin Eleusinov und seine Angehörigen. In Almaty wurde auf Journalisten des Kanals Dozhdʼ (Телеканал Дождь), die versuchten, in der städtischen Leichenhalle zu filmen, geschossen (sie wurden nicht verletzt). Am 6. Januar waren auf dem Platz einige Aktivist*innen, die ein Transparent trugen mit der Aufschrift »Wir sind keine Terroristen«. Die Polizei schoss auf sie und tötete mindestens einen.

Das Stadtzentrum von Almaty am 5. Januar; ein Foto von Zhanabergen Talgat.

Wie wird der Einmarsch russischer Truppen in Kasachstan eurer Meinung nach die Situation langfristig verändern?

Der Einmarsch der russischen Truppen ist sehr beunruhigend. Im Falle eines Krieges mit der Ukraine kann man sich die schlimmsten Szenarien ausmalen. Alle, die ich kenne, sind sich einig, dass dies unangemessen ist und dass man es eine Besetzung nennen kann.

Ich persönlich befürchte, dass der Einmarsch russischer Truppen den ohnehin schon starken Einfluss Russlands auf Kasachstan politisch zementieren wird und Kasachstan sich dem Russland anpassen wird, das wir aktuell kennen: mit gefolterten Aktivist*innen und erfundenen Fällen. Unsere politische Opposition ist bereits vollständig zum Schweigen gebracht worden, und die Bevölkerung des Landes ist völlig eingeschüchtert. Wenn man bedenkt, dass dies die zweite Schießerei während der Proteste ist (2011 und 2022), und dass es in der Geschichte Kasachstans 1986 auch eine brutale Niederschlagung eines Aufstands unter der UdSSR gab, und die Informationen über die Zahl der damals getöteten Menschen immer noch geheim sind… dann gibt es keine Hoffnung, dass wir in naher Zukunft wissen werden, was wirklich passiert ist und wie viele Menschen getötet und verletzt wurden. Die Zahl geht höchstwahrscheinlich in die Tausende.

Was glaubt ihr, wird als Nächstes passieren?

Es ist noch zu früh, um sich in einer Situation des Krieges um Informationen, Propaganda und Isolation eine Vorstellung zu machen. Ich bin keine politische Expertin.

Mit Sicherheit wird die Repression jetzt zunehmen. Das Internet und alle Medien werden zensiert werden. Jetzt versucht die Regierung, ein “freundliches Gesicht” aufzusetzen, als wären sie die Retter, die uns vor den Terrorist*innen gerettet haben. Ich bin mir nicht sicher, ob das funktionieren wird. Aber ich denke, dass es vorerst ruhig bleiben wird. Die Menschen sind zu verängstigt und schockiert.

Gibt es irgendetwas, was Leute außerhalb Kasachstans tun können, um euch oder andere dort zu unterstützen?

Informationen verbreiten. Vielleicht wird es bald mehr Repressionen geben, und einige Aktive werden Hilfe benötigen, um das Land zu verlassen.

Aber das wichtigste ist die Informationsarbeit. Nach den Präsidentschaftswahlen 2019 wurden wir alle bei den Kundgebungen verhaftet, und die einzigen, die darüber berichteten, waren ausländische Medien und unabhängige kasachische Medien – von denen es nur sehr wenige gibt. Jetzt ist es sehr wichtig, dass der blutige Januar in Kasachstan nicht nur ein schönes revolutionäres Bild war, wie viele linke Publikationen schreiben, sondern auch, dass er nicht als ein terroristischer Akt von außen in Erinnerung bleibt, wie offizielle Stellen aus diversen Ländern Glauben machen wollen.


Weiterführendes


  1. Januar: Ein Blick auf Almaty im Rauch, am Tag danach.

Teile der Übersetzung: Jan Ole Arps / analyse & kritik

  1. Anmerkung der Übersetzer*innen: wir hatten einige Diskussion darüber ob wir Soldaten und Polizei in diesem Text gendergerecht schreiben wollen oder nicht. Einerseits wollen wir die Armee und Polizei als Horte ultra-patriarchale Strukturen kennzeichnen – andererseits wollen wir nicht die Rolle von Soldatinnen und womöglich nicht-offener Queers unsichtbar machen. Wir finden gerade diese Diskussion spannend und wollen dazu anregen eben jene zu führen. 

  2. Vom 17. bis 19. Dezember 1986 fanden in Almaty Proteste statt, nachdem Michail Gorbatschow, der damalige Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, den langjährigen Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei Kasachstans entlassen und durch einen Beamten aus Russland ersetzt hatte. (Gorbatschow behauptete später, er habe Nursultan Nasarbajew daran hindern wollen, zu viel Macht in seinen Händen zu konzentrieren; Nasarbajew regierte Kasachstan später 28 Jahre lang). 1986 wie auch 2022 endeten die Proteste mit einem Massaker durch die staatlichen Streitkräfte. 1986 wie 2022 kursierten Gerüchte, dass die Demonstrant*innen mit Wodka bestochen oder mit Flugblättern in die Irre geführt worden seien. 

  3. Kazfem, der wohl ersten feministischen Bewegung in Kasachstan seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion – sie gibt die feministische Zeitschrift Yudol’ heraus und organisiert Demonstrationen, zum Beispiel zum 8. März. 

  4. Dieser Artikel befasst sich mit diesem Thema, wenn auch aus einer parteiischen Position heraus.